zu überwinden. Nicht einmal eine teilweise, bescheidene materielle Wiedergutmachung des ihnen zugefügten Un­rechtes ist ihnen bisher gewährt worden. Eine Wiedergut­machung der physischen Mißhandlungen und der seelischen Qualen, die sie durchgemacht haben, ist überhaupt un­möglich.

Aberdie Helden der Kristallnacht, die Henkersknechte Hitlers laufen heute noch größtenteils frei und unbehindert herum. Sie dürfen sich noch immer des Besitzes und der Früchte des geraubten jüdischen Vermögens erfreuen. Als harmlose Mitläufer überstanden sie unangetastet das Ent­nazifizierungsverfahren. Sie brauchen nicht einmal ernst­lich eine Strafverfolgung nach den Bestimmungen des Straf­gesetzbuches oder nach dem Gesetz Nr. 10 des-Kontroll­rates zu befürchten, das alle diese Verbrechen ausdrücklich unter Strafe stellt. Bisher hat sich noch bei uns kein Staats­anwalt dazu aufgerafft, Anklage gegen sie zu erheben. Ist es darum ein Wunder, wenn sie heute bereits wieder frech ihr Haupt erheben, alsDemokraten auf ihrunveräußer­liches Recht pochen und die Bestrafung derKriegsver­brecher in anderen Ländern fordern! '

Selbstverständlich können die vom nationalsozialistischen Regime an den Juden in aller Welt begangenen Verbrechen nicht ungeschehen gemacht werden. Ihre strafrechtliche Verfolgung aber, neben einer ausreichenden wirtschaftlichen Wiedergutmachung für die Opfer des Faschismus müßte durchgeführt werden, um die Idee des Rechtes im deutschen Volke lebendig machen, ihm damit wieder die Möglich­keit zu verschaffen, seinen Platz als Rechtsstaat unter den Völkern der Erde einzunehmen.

Eine Lehre aber muß das gesamte deutsche Volk aus den ungeheuren Verbrechen des Nazi-Regimes ziehen. ^Wir müs­sen Schluß machen mit allen Resten des Nationalsozialis­mus und der nationalsozialistischen Ideologie und Mentali­tät. Es gilt die Ursachen auszumerzen, die zum National­sozialismus geführt haben. Wahre Menschlichkeit, wahre Toleranz, Achtung vor der Menschenwürde, vorbehaltlose Anerkennung der Gleichberechtigung nationaler Minder­heiten müssen Gefheingut des deutschen Volkes werden: Damit rotten wir die Wurzel des Antisemitismus im deut­schen Volke aus. .

Sozialminister des Landes Nordrheiü-Westfalen.

H. Renner *

Wiedergutmachungspflicht

Von Innenminster Dr. Walter MenzeL

Als nach der bedingungslosen Kapitulation verkündet und angeordnet wurde, daß kein Rechtssatz mehr angewendet werden dürfe, der es erlaube, jemanden wegen seiner Rasse, Religion oder politischen Einstellung zu benachteiligen, war zwar ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu der vom Nazis­mus jahrelang mißachteten Gerechtigkeit getan; aber noch harrt die Wiedergutmachung geschehenen Unrechts einer gesetzlichen Regelung. Das oft zitierte Wort von Anatole France vom Gesetz, das mit gleicher Majestät dem Armen wie dem Reichen das Schlafen unter Brücken verbiete, paßt nirgends besser als zur Charakterisierung des gegenwärtigen Rechtszustandes. Denn der wahren Gerechtigkeit wird nicht eher Genüge geleistet sein, bis den Opfern des Nazitums durch Wiedergutmachung begangenen Unrechte eine Le­bensgrundläge geschaffen wird, die sie überhaupt erst be­fähigt, von ihren wiedererworbenen Rechten Gebrauch zu machen, und mit der Entwicklung, von der sie jahrelang ausgeschlossen waren, Schritt zu halten. Erst dann werden sie den ihnen zukommenden Platz im Leben unseres Volkes auch tatsächlich behaupten können.

Das deutsche Volk hat daher nicht nur die Pflicht zur Wiedergutmachung begangenen Unrechts, sondern auch ein Recht darauf. Nur so kann es seine sittliche Bereitschaft und den Willen zur Abkehr von den Prinzipien der Recht­losigkeit, und brutalen Gewaltherrschaft den Völkern der Erde beweisen. Deshalb sollte die Wiedergutmachung zwar im Einverständnis mit den Besatzungsmächten erfolgen, nicht aber von ihnen-diktiert und dem deutschen Volke be­fehlen werden. Angesichts der ungeheuren Schuld, die das deutsche Volk vor allem den jüdischen Menschen gegenüber auf sich geladen hat, muß es uns eine heilige Pflicht sein, ohne daß uns dies befohlen wird, den Ueberlebenden i des Rassewahnsinns jede nur 'erdenkliche Hilfe und Förderung angedeihen zu lassen und ihnen die Rechte zurückzugeben,

I

die ihnen ein System der Rechtlosigkeit, des Terrors und der nackten Gewalt geraubt hat. Daß die Wiedergutmachung trotz wichtiger Vorarbeiten, die auf diesem Gebiet zweifel­los geleistet worden sind, bisher noch kein sichtbares Ergeb­nis gezeigt hat, mag für den einzelnen nicht ermutigend ge­wesen sein, doch ich bin davon überzeugt, daß mit dem Ab­schluß des demokratischen Aufbaus unseres Landes und der Schaffung gesetzgebender Körperschaften die Wiedergut­machung einer befriedigenden Regelung zugeführt wird. Die Stellungnctfime zu diesem Problem wird zugleich ein Prüfstein für die Haltung der politischen Parteien sein, in welchem Umfange sie gewillt sind, die ewigen Moral- und Sittengesetze als Grundlage unseres künftigen Staates anzu­erkennen und durchzuführen. Noch wesentlicher als die materielle Wiedergutmachung erscheint mir dabei, im deut­schen Volke, insbesondere in der heran wachsenden Jugend, jedes Wiedererwachen einer Ideologie , zu verhüten, die Deutschland in diesen Abgrund gestürzt hat.

Eine meiner vornehmsten Aufgaben wird es sein, mitzu­helfen, daß dem durch unsägliche Leiden schwer geprüften jüdischen Volke wieder Gerechtigkeit zuteil wird.

Auswandem oder Hierbleiben?

Das brennendste Problem, das uns Juden hier zu schaffen macht, ist das Problem: sollen wir. auswandem oder sollen wir hierbleiben. Bisher habe ich es immer vermieden und zwar absichtlich, diesem 'Thema Stellung zu neh­men. Ich habe niemals irgendeinem Menschen meine Mei­nung aufoctruieren wollen; Vielmehr habe ich. mir immer angehört, was angeblich berufene Leute mir zu dieser Frage zu sagen hatten. Ich habe auch im Gemeindeblatt die Stel­lungnahme derjenigen gebracht, deren Ansichten zweifellos mit meiner nicht übereinstimmten, aber eine Zeitung ist da­zu da, allen Lesern gerecht zu werden und so sei. es mir heute gestattet, einmal ein offenes Wort zu sagen.

Dreizehn Jahre lang haben wir Juden gekämpft um das nackte Leben. 6*4 Millionen sind bei diesem Kampf geblie­ben und nur ein kleiner Rest hat die Zeit in den KZ.s über­lebt. Ein noch kleinerer Rest konnte sich hier in Deutsch­land versteckt halten oder in der Emigration die Hitlerzeit überstehen. Sie alle leben jetzt in Deutschland und sind viel­leicht enttäuscht über die derzeitigen Umstände, die sie hier vorgefunden haben. Sie sind enttäuscht deswegen, weil sie sich mi Recht oder Unrecht mag dahingestellt bleiben? großen Erwartungen hingaben, die sich nicht erfüllen konn­ten, weil ein total besiegtes und bis aufs letzte abgewirt­schaftetes, in, Trümmern auf gegangenes Deutschland übrig­blieb. Neu* wenige von Uns haben wieder Arbeit und Brot gefunden. Nur ein kleiner Prozentsatz konnte den alten Be­ruf ausüben. Das sind zeitbedingte Verhältnisse; die Wirt­schaft liegt danieder, Handel pnd Wandel sind fast auf einem Nullpunkt angelangt, und die vielen seelischen und körperlichen Strapazen, denen die Juden in 13jähriger Lei­denszeit ausgesetzt waren, verhindern ihren vollen Arbeits­einsatz. Da kommen nun Leute, diese Situation ausnützend, und machen Versprechungen, von denen sie selbst wissen, daß sie niemals in Erfüllung gehen können. Ich meine jene Rufer, die den Juden propagieren: wandert aus nach Pa­lästina, und schon in absehbarer Zeit werdet ihr im Lande eurer Väter sein. Es gibt keine Möglichkeit für deütsche Juden, in absehbarer Zeit nach Palästina zu gelangen. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Palästina kann unmöglich alle Juden aufnehmen. Ich will nicht von den Kämpfen sprechen, die zur Zeit unter Arabern und Juden geführt werden. Der Ausgang dieses Kampfes ist durchaus ungewiß. Wir alle hoffen und wünschen, daß es gelingen wird, weil es gelingen muß, in Palästina eihen Judenstäat, aufzurichten. Wer diesen ehrlichen Wunsch nicht in sich trägt, hat kein Recht, sich als Angehöriger der jüdischen Nation zu be­trachten. Gäbe es eine Möglichkeit, hundert-, zweihundert- oder gar dteihunderttausend Juden hach Palästina zu brin­gen, so kämen die deutschen Juden für die Einwanderung auch nicht in JBetracht, denn das dürfte doch wohl klar sein, daß ap allererster Stelle die D. Ps infrage. kommen und dann die große Anzahl der Juden, die in Belgien, Holland, Frankreich, Dänemark und anderen Ländern leben, die schon in den Jahren vor dem Krieg ihr Certifikat für Pa­lästina hatten, aber nicht einwandem konnten, weil, der Krieg dazwischen kam. Alle diese Leute haben einen älteren Anspruch auf bevorzugte Einwanderung und erst dann, wenn alle diese Juden in Palästina eingewandert wären,