nur die Dinge in Erinnerung rufen will, deren Augenzeuge jeder deutsche Mann, jede deutsche Frau und jedes deutsche Kind war. Ich spreche davon,'weil ich damit das kur?e Gedächtnis des. deutschen Volkes-beweisen will.
Zwei Fälle eines guten Gedächtnisses fielen'mir in die Hände und da diese beiden Fälle so ganz außerhalb der heutigen deutschen Mentalität liegen und weil es gerade Frauen sind, die nicht nur kein kurzes Gedächtnis, sondern auch den Mul besitzen, an die Öffentlichkeit zu treten, deswegen will ich sie wiedergeben: *
Der 1. Vorsitzende: der jüdischen Gemeinde Köln, Dr. med. Herbert Lewin, hielt am 26. September 1946 im Nord- Westdeutschen Rundfunk eine Morgenandacht anläßlich des jüdischen Neujahrs-Festes. Er erhielt einige Schreiben von Hörern, darunter ein Schreiben der Frau Marie J u nk e r, Hannover, Spielhagenstraße 8 folgenden Inhalts:
Sehr geehrter Herr Dr. Lewin!
Nach dem Ahhören Ihrer Rpndfunkansprache am heutigen Morgen bin ich so erschüttert, daß es mir ein Bedürfnis, ist, Ihnen von meiner tiefen Anteilnahme an dem Geschick meiner jüdischen Menschenbrüd®: auf diesem Wege zu sprechen.
Wenn es mir als einer alten Frau von 73 Jahren, auch nicht möglich ist, für diese meine Menschenbrüder, die um ihrer Leiden willen meinem Herzen so nahestehen, etwas zu tun, so^hoffe ich doch, daß die Darbietung eines mitfühlenden Herzens • einem verstehenden Gefühl begegnet. Schon seit dem Jahre 1933 habe 'ich meinen Gefühlen der allumfassenden Bruderliebe darin Ausdruck gegeben, daß ich mich zu allen mir begegnenden jüdischen Mitbürgern, soweit sie mir bekannt, freundlich teilnehmend in Wort und Tat zeigte. So kam ich häufig in das Altersheim ln der Ellerstr. und hatte stets den Eindruck einer feinen Kultur im Verkehr der alten Damen. Als die Ausweisungen einsetzten, habe ich mit blutendem Herzen meine Gebete ins Weltall geschickt, bin mit meinen Worten gegenüber allen nationalsozialistischen Hausgenossen so weit gegangen, daß meine Familie um mich bangte, aber alles umsonst, ich fand kein Verständnis.
Einsam stand ich da und heute ist es nicht viel anders. Jetzt möchte ich noch einmal jünger sein, Um für . die großen und guten Gedanken zu kämpfen, die in Ihrer Reli-' gion seit mehr als 5 Jahrtausenden begründet sind, während sie im Christentum seit 2 Jahrtausenden wohl lebendig aber nie herrschend geworden sind.
Vielleicht hätte Walther Rathenau der neue Messias werden können, aber die Menschheit ist noch zu sehr im Bösen, in Macht und Habgier verstrickt. Das Große und Gute wird noch immer von den bösen Menschen beseitigt. Möchten die guten Stimmen von jenseits des Ozeans und aus England, die Oberhand gewinnen Und möchten sie fähig sein, für eine friedliche und gesicherte Zukunft des jüdischen, und nach, meiner Ansicht auserwählten Volkes, zu sorgen. Das möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Lewin, zu Ihrem Jahresanfang von Herzen wünschen.
(gez.) Frau Marie Junker.
Frau Junker sandte zusammen mit diesem Brief einige Gedichte, von denen wir eins in dieser Nummer wiedergeben.
Vor etwa 3 Wochen hat der Chef der Polizei in Düsseldorf eirfte Bestimmung erlassen, wonach Inhaber eines Sonder- EÄisweises keine bevorzugte Abfertigung in Geschäften haben sollen. ,
Wir kennen den Chef der Polizei, und wir wissen, daß es ihm fern lag, mit dieser Bestimmung die Juden zu treffen oder gar einen anderen Standpunkt als den der Wiedergut- mächungspflicht gegenüber den Juden kund zu tun.
Die Veröffentlichung dieser Bestimmung schmerzte. Wir glaubten schon an keinerlei Reaktion zu unseren Gunsten, als am 23. November 1946 in der „Rheinischen Post” ein Brief eines Fräulein Hildegard Wegner veröffentlicht würde, die schrieb:
Unberechtigte Bevorzugung?
* Mit Befremden nehme ich davon Kenntnis, daß der Chef der Polizei der Stadt Düsseldorf keine Gedanken an Wie- . dergutmachung für die durch das Naziregime schwer geschädigten Personen kennt. Sollten den Menschen, die jahrelang (ich denke da besonders an die Juden), entrechtet, gedemütigt und verfolgt waren, jetzt, da sie gebrochen an Leib und Seele zu den Ueberlebenden zählen, keine Erleichterung bei den augenblicklichen Nöten gewährt wer-
Dr. Philipp Auerbach 40 Jahre alt
Am 8. Dezember feierte Dr. Ph. Auerbach seinen vierzigsten Geburtstag. Wir ‘sind sicher, ; daß wir'die Zustimmung aller jüdischen Gemeinden von Nordrhein-Westfalen und darüber, hinaus die Zustimmung aller Juden, die aus dem Osten zü uns kamen, haben, wenn wir im Namen aller dieser'Menschen Herrn Dr. Auerbach aufs herzlichste zu seinem Geburtstage gratulieren.
Wir wissen, daß Herr Dr. Auerbach kein Freund davon ist, wenn von seiner bisherigen Tätigkeit in der Oeffentlichkeit zu viel gesprochen wird. Es ist aber notwendig, daß wir trotzdem an diesem- Freudenfest in Erinnerung rufen, mit welchem Kampfesmut und Energie dieser Mann sich unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald uneigennützig der jüdischen Sache zur Verfügung stellte. Die wenigen Erfolge, die wir leider bisher haben konnten, die haben wir zum größten Teil Dr. Auerbach zu verdanken. In unermüdlicher Arbeit, keinen Weg, keine- Reise scheuend, ist Dr. Auerbach für die Wiedergutmachung eingetreten, und er war auch immer zur Stelle, wenn es sich darum handelte, Flüchtlingen, die aus dem Osten kamen, zu helfen.
Seinem Organisationstalent war es zu .verdanken, wenn der Landesverband Nordrhein-Westfalen in einer Verhältnismäßig kurzen Zeit' auf die Beine gestellt wurde.
Es lag im Interesse unserer jüdischen Sache, daß Herr Dr. Auerbach das Angebot eines Staatskommissars in München annahm. Es lag deshalb in unserem Interesse, weil es sich hier darum handelte, die Betreuung von vielen tausend bereits angekommenen und noch ankommenden Flüchtlingen in Bayern einem Mann zu übergeben, der seine Fähigkeiten und seine Energie unter Beweis gestellt hat.
Wir hoffen, daß es Herrn Dr. Auerbach gelingen möge, in den künftigen Jahren die Ziele, die er sich für uns gesetzt hat, zu erreichen und sich seine jugendlichen Frische zu erhalten.
den können? Steht ihnen nicht an erster Stelle Hilfe zu,' damit sie genesen können von den Wunden der Vergangenheit?
Hat der Chef der Polizei vergessen, was alles sie erdulden ' und entbehren mußten in langen, Tangen Jahren? Ange- , fangen beim Schilde „Juden unerwünscht”, über Sitzplatzverbot in der Straßenbahn, die später gar nicht mehr benutzt werden durfte, weiter Ausgeh- uiid 'Einkaufsverbot zu bestimmten Stunden; dann wurden ihnen nicht einmal die Lebensmittel zugeteilt, die die jetzt Schlangestehenden erhielten. So könnte ich noch vieles aufzählen, womit man die Aermsten quälte, die jetzt als Ruinen nicht gestützt Werden können? Nicht einmal die Kranken und Alten kann man berücksichtigen?
Man glaubt sich in vergangene Zeiten versetzt, da ein 9. November 1938 aus dem „empörten deutschen Volk” entstehen konnte, Wenn man jetzt die Zeilen über die „Beschwerden der Bevölkerung” liest. Gerade eine Woche ist vergangen, seit bei der Einweihung des Gedenksteines der eingeäscherten Synagoge von den Spjtzen der Regierungsstellen viel gute. Worte der Bereitschaft, zur Wiedergutmachung gesprochen wurden. .
Hildegard Wegner.
Zwei Frauen, die kein kurzes Gedächtnis haben und darüber hinaus wahrhaftig und mutig genug .sind, ihren Standpunkt der Oeffentlichkeit mitzuteilen!
Ich frage mich, ob es wirklich nur eine Hildegard Wegner und eine Marie Junker in. Deutschland gibt, die als Ein- ?elmenschen, nicht als Repräsentanten von Parteien oder Regierungsstellen, von denen wir schon viele schöne Worte zu hören bekamen, Dinge nicht vergessen haben, die man nie vergessen darf.
Ich frage mich, ob das deutsche Volk wirklich glaubt, wieder einmal in der~ Welt den Namen des Volkes der Dichter uhd Denker zurückgewinnen zu können, wenn es für die .fürchterlichsten Dinge, die seit Menschengedenken begangen” wurden und an denen es direkt oder indirekt mitgewirkt hat, ein derartig kurzes Gedächtnis hat.
Oder — ist es garnicht das kurze Gedächtnis, sondern . . . .?
. .x.
(Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlages gestattet).