OER JUDENSTAAT . NR. 33 . SEITE 2
Chor der Mißvergnügten
Dissimilierung
p. h. Wien, 21. Dezember.
Die politische Neuordnung in Deutschland hat auch dem politischen Sprachschatz ein neues Wort gebracht. Es ist nicht verwunderlich, daß die Ju* den aufhorchen, wenn dieses neue Wort — Dissi* milierung heißt es — gesprochen oder geschrieben wird. Es ist ja für sie geschaffen worden und kennzeichnet einen Prozeß, der sich auf allen Ge* bieten des sozialen und kulturellen Lebens an den Juden vollzieht. An den Juden Mitteleuropas. Denn sie sind es allein, die, einige Generationen lang der Assimilation verfallen, dissimiliert werden können; d. h. sie sind es, von denen verlangt wird, sie mögen den Akt der Angleichung, die sie vollzogen haben, wieder rückgängig machen.
Es wäre müssig, sozialphilosophische Betrach* tungen darüber anzustellen, inwieweit diese For* derung gerecht ist oder nicht. In Deutschland ist der äußere Dissimilierungsprozeß nahezu abge* schlossen und bildet so ein Paradigma für manche Länder, die ihn bei sich ebenfalls herbeiwünschen. Ein konsequenter jüdischer Nationalist wird die Dissimilierung auf kulturellem Gebiet als nicht tragisch* ansehen können, zumal er ja weiß, welche Verheerung die kulturelle Assimilation im Be* reich des Jüdischen bedeutet. Daß aber mit der sozialen Dissimilierung faktische Entrechtung einhergehen kann, das ist heute von niemand mehr anzweifelbar und macht die sich vor unseren Augen heute vollziehende Tragödie der mitteleuro* päischen Judenheit aus.
Es ist an der Zeit, daß die Judenheit jener Länder, in denen der Ruf nach Dissimilierung der Juden immer stärker wird, Vorsorge treffen. Dies gilt besonders für die österreichische Judenheit. Hier ist die theoretische Diskussion in vollem Gange, die praktische Auswirkung schon sichtbar. An den Aufsatz des ehemaligen christlichsozialen Ministers Cermak, den auch wir einer Analyse unterzogen, hat sich eine Debatte entzündet, die charakteristische Streiflichter auf die Situation der Juden Oesterreichs wirft. Zunächst ist Herr Cermak aus der Reserve seiner schriftlich fixierten Theorie zur Praxis seiner Reden übergegangen und hat ziemlich unverblümt erkennen lassen, daß es ihm in erster Linie darum zu tun ist, die Juden aus dem Wirtschaftsleben Oesterreichs wenn nicht aus* zuschalten, so doch stark zurückzudrängen. Auf einer wichtigen Tagung der österreichischen Ka* tholiken, auf der jüngst abgehaltenen Führerbera* tung der „Katholischen Aktion” ist ein christlich* sozialer Gesinnungsgenosse des Herrn Cermak einen ganz großen Schritt weiter gegangen. Profes* sor Pater Schmidt hat dort ein Programm zur Lösung der Judenfrage in Oesterreich entworfen, das dem radikalen Antisemitismus ziemlich nahe kommt und in seiner gegen die Tauf juden gerichte* ten Pointe dem Rassenstandpunkt huldigt. Das sind nur die äußeren Symptome eines inneren Vorgangs, den so mancher im sozialen Leben ste* hende Jude schon deutlich zu verspüren bekommt.
Ist man obendrein noch zur Feststellung ge* zwungen, daß die Wirtschaftsposition der Juden dieses Landes weit über dem Rahmen der allge* meinen Misere trostlos ist, so ist die Zukunftsper* spektive der Juden Oesterreichs Umrissen. D i e Juden Oesterreichs werden einen Kampf um ihre Rechtslage und um ihre wirtschaftliche Behauptung führen müssen.
Mit dieser Feststellung ist natürlich auch schon jene von der brennend gewordenen Judenfrage in Oesterreich gegeben. Betrüblich ist nur, daß die Juden selbst erst durch das kräftige Winken mit dem Zaunpfahl der Nichtjuden auf sie aufmerksam werden und dann so reagieren, als wären sie erst heute frisch und jung auf die Welt gekommen. Sie polemisieren noch flott mit dem Argument ihres patriotischen Deutschtums in und aus Pros* nitz und ihre aus dem Liberalen in den luftleeren Raum geratene Presse hält Herrn Cermak seinen Antisemitismus vor. Die Juden werden diese nek* kische Ahnungslosigkeit sehr bald aufgeben und sich eine Bewußtheit aneignen müssen, die eben nur in die Erkenntnis vom Wesen der Judenfrage, wie sie der Zionismus vermittelt, münden kann.
Die mitteleuropäische Judenheit hat den Be* griffsinhalt des Wortes Dissimilierung so zu for* men, daß die Angriffswaffe des Feindes ihre Ver* teidigungswaffe werde.
Arabische Aufwiegler sind straffrei
Jerusalem, 18. Dezember. Das Appelationsge* rieht in Jerusalem, das aus zwei englischen Rieh* tem zusammengesetzt war, hat das Urteil gegen die drei arabischen Führer, die wegen der An* führung der verboten gewesenen arabischen De* monstration verurteilt worden waren, gemildert.
Das Mitglied der Arabischen Exekutive Jamal al Husseini und Edmond Roch erhielten statt eines Monats Arrest eine Kautionsstrafe von je 100 Pfund für die Dauer eines Jahres. Der Scheich Abdul Kader wurde zur Gänze freigesprochen.
Die kraftvolle Demonstration der Tel-Aviver Juden* schaft hat, wie leicht vorauszusehen war, ein entsprechendes Echo gefunden- Das Mißvergnügen unserer Offiziellen kennt einfach keine Grenzen. Ihr Ghettogeist ist aufgescheucht. Sie reagieren in feiger Knechtselig- 1 keit so, wie sie glauben, daß es der britische Herr haben will, der ja Gott behüte auf den Gedanken kommen könnte, sie, die biederen Offiziellen der Jewish Agency und der anderen »Körperschaften«, hätten bei dieser jüdischen Unbotmäßigkeit mitgetan. Sie haben es wirklich nicht, das liegt schwarz auf weiß vor.
Als erster ergriff der Tel-Aviver Stadtrat seihst das Wort. Der Verlauf der ad hoc einberufenen Sitzung und ihr Endergebnis wird — das stellen sogar so revisionistenfresserische Zeitungen fest, wie der Warschauer* »Hajnt« eine ist — ein Schandfleck in den Annalen der ersten jüdischen Stadt seit dem Untergang des jüdischen Staates bleiben. Hier der Bericht über diese Sitzung :
»Der Stadtrat von Tel-Aviv hielt am Sonntag eine außerordentliche Sitzung ab, die ganz den Vorgängen am Samstag gewidmet war und sehr stürmisch verlief. Die Vertreter der linken Richtung des Zionismus richteten sehr scharfe Angriffe gegen die Rechte, die nicht' jene radikalen Elemente im Zaum halte, die die blutigen Zusammenstöße mit der Polizei provoziert haben.
Bürgermeister Dr. Mayer Dizengoff verurteilte die Schuldigen an den Zwischenfällen und deutete an, daß eine Abschwächung des Systems der Touristenverfolgungen und der Spitzelei vielleicht eintreten könnte; dies hätten maßgebende Persönlichkeiten in Jerusalem in Aussicht gestellt Dizengoff bezeichnete es als' eine Schande, daß seitens gewisser Polizeiorgane sogar Kinder zu Spitzelarbeit gegen Lohn erzogen werden.
Stadträtin Rosa Cohen (Arbeiterpartei) griff heftig die Revisionisten und den Brith Trumpeldor an und nannte sie »zionistische Braunhemden«. Dizengoff rief* sie wegen dieses Ausdruckes zur Ordnung. Die revisionistischen Stadträte griffen die Linke heftig an und sagten, diese hätte die Verleumdung der Revisionisten zu ihrem System erhoben. Die Linke tadelte den Magistrat, der in seiner Proklamation von unbekannten Unruhestiftern spricht, obwohl doch die Schuldigen je-? dem bekannt seien. Es sei eine falsche Taktik, durchj Deckung der wirklichen Schuldigen die gesamte Einwohnerschaft zu stigmatisieren.
Zum Schluß wurde eine Besolution angenommen, in der der Polizei Anerkennung für die Haltung ausgesprochen wird, die sie in ihrer schweren Lage bekundet hat ebenso eine Resolution der Sympathie für die Verwundeten. . ■
Ein Vorschlag der R e v i si o n i s t e n, der d i e Politik der Touristenjagd, die das unmittelbare Motiv der Empörung des Jischuw darstellt, verurteilt, wurde abgelehnt«.
Dieser Bericht ist zwar reichlich unklar. Er entstammt nämlich der palästinensischen Vertretung der Jüdischen Telegraphenagentur (JTA), die von einem gutlinken Mann bedient wird, und so je nachdem, ein ^bißchen so und ein bißchen so färbt. Aber die Tendenz der Sitzung ist klar. Sie wird an anderer Stelle unseres Blattes entsprechend beleuchtet.
Wenn der Tel-Aviver Stadtrat so reagieren darf — gegen seine eigenen Bürger, er, der unmittelbare Z,eu,- ge schändlichster Razzia-Szenen in seinen Straßen, wite dann noch das Pack jener 'Jewish Agency-Politiker, deren Devise ist: »Nach uns die Sintflut«? Die Jewish Agency hat folgende Kundgebung erlassen:
»Die Exekutive der Jewish Agency beklagt aufs tiefste die Vorfälle, die ,sich am letzten Sonnabend 'in Tel-Aviv ereignet haben. Die, durch die Maßnahmen gegen jüdische Touristen verursachte Mißstimmung rechtfertigt nicht Gewaltanwendung gegein Polizei, die* - in Ausübung ihres Dienstes handelt. Doch hätte diese Mißstimmung nicht zu einem offenen 'Ausbruch geführt, wenn nicht nach der revisionistischen Versammlung eine Demonstration veranstaltet worden wäre, die unvermeidlich zu einem Zusammenstoß mit der Polizei führen mußte. Einzelne an der Kundgebung nicht beteiligte Personen wurdetx in diesen Zusammenstoß mit [hineingezogen.
Dieser beschämende Vorfall war nur in der durch die Touristenjagd geschaffenen besonderen Atmosphäre* •möglich geworden und er steht im Gegensatz zu der Wertschätzung, die die jüdische Gemeinschaft der hohen Bedeutung der der, Polizei übertragenen Funktionen
Das Manifest an die Weltjudenheit
Wir haben in unserer letzten Nummer ein Telegramm unseres palästinensischen Berichterstatters wiedergegeben, das von einem Manifest aller nichtsozialistischen Parteien Palästinas an die ganze Weltjuden-* heit berichtete. Nun meldet die ITA:
Jerusalem, 13. Dezember. Der aschkenasische Oberrabbiner von Palästina, Cook, der Dichter Chaim Nachman Bialik und die Führer'‘sämtlicher bürgerlicher Parteien Palästinas veröffentlichen ein Manifest an die Judenheit der ganzen Welt, in dem es u. a. heißt:
Die Politik der englischen Regierung in Palästina, insbesondere die Einschränkung der jüdischen Einwanderung in einer Zeit, in der das Land jüdische Arbeit so sehr braucht, ferner die angekündigte Einsetzung
entgegenbringt. Die Palästina-Polizei ist das Bollwerk' der Sicherheit des Landes. Sie muß oft zur Erfüllung unpopulärer Pflichten herangezogen werden, wenn es gilt, die Respektierung von Gesetz und Ordnung zu erzwingen; jeder Versuch, an einzelnen Polizisten Rache zu üben, ist einer zivilisierten Gemeinschaft unwürdig und muß, wie die letzten Vorfälle, von allen verantwortlichen jüdischen Stellen aufs schärfste verurteilt werden«.
Der Inhalt dieser Erklärung wurde von S h; e r t o k dem Generalinspektor der Polizei Spicer übermittelt. Das ist derselbe Herr Shertok, der aus seiner Versenkung als politischer Leiter der Jewish Agency m Jerusalem in das Licht der Oeffentlichkeit trat, als er uns, den »Judenstaat« dahin dementierte, daß er eine jüdische Einheitsfront nicht wünsche. Er wünscht nur eine Einheitsfront mit der britischen Polizei, die jüdische »Illegale« am Kragen hat.
Zu guter letzt meldet sich natürlich auch der Kollege des Herrn Shertok, der politische Leiter der Jewish Agency in L ondon Herr Prof. S. Brodetsky zu Wort. Der diesbezügliche Bericht lautet:
Auf dem 5. Jahresbankett der Gesellschaft der jüdischen Spitalsärzte zu London, dem der englische Land- iwirtschaftsminister Walter Elliot-Elliot als Ehrengast, beiwohnte, hielt der politische .Dezernent der Exekutive der Jewish Agency, Prof. Selig Brodetsky, eine Rede, in der er im Zusammenhang mit den jüngsten Vorfällen in Tel-Aviv die Notwendigkeit betonte, die, freundschaftlichen Gefühle Englands für das jüdische Aufbauwerk in Palästina zu erhalten.
»Ich bin überzeugt«, erklärte Prof. Brodetsky, »daß wir, die wir so wenige Freunde in der Welt haben, bestrebt sein müssen, uns jeden Freund zu erhalten. Hinsichtlich Englands ist dies ein Gebot nicht nur politischer Klugheit, sondern auch der Dankbarkeit; jeder Versuch, diese Freundschaft zu durchkreuzten, muß mit allertiefstem Bedauern aufgenommen werden. Von den letzten Ereignissen in Tel-Äviv wünschen wir alle, sie wären nicht vorgefallen und mögen bald ver-, gessen sein. Aber es ist zu bedenken, daß wir Tausende von Jahren lang umhergewandert sind und daß uns im Laufe dieser Tausende von Jahren niemals die Mög-, lichkeit, uns dauernd niederzulassen, gegeben wurde; stets waren wir eine hilfslose Minderheit, den, Launen einer mächtigen Mehrheit preisgegeben. Dann kam der Augenblick der großen Befreiung durch die Balfour-Deklaration und wir glaubten, nunmehr sei die Wanderschaft zu Ende, auch das jüdische Volk habe nun ein Land bekommen, in das Juden kraft eines Rechtes und nicht bloß geduldet einwandern könnten. Wenn es möglich ist, daß in einer Zeit, in der so viele von uns ohne Hoffnung und Zukunftsaussicht 'sind, in Palästina Dinge geschehen, wie Jagd auf Juden zum Zwecke der Paßkontrolle, dann werden wir an Zustände in Rußland erinnert, wo das Schicksal des! Juden vom Besitz eines Passes abhängig war.«
»Jedermann«, erklärte Prof. Brodetsky, wird die alberne und kopflosse Handlungsweise dieser jungen, Menschen in Tel-Aviv verurteilen und doch werdenalle« hier Verständnis für sie aufbringen pnd ihnen verzeihen und versuchen, die früher von niemandem für möglich gehaltenen Gründe dafür, daß es zu solchen Vorfällen kommen konnte, zu beseitigen.«
Wie sich doch der gute Mann entschuldigt im Angesicht so einer britischen Obrigkeit. Er versteht zwar..,. Aber... Freunde brauchen wir! Nun, ist etwa Herr* W au c h o p e kein Freund? Die Demonstration war eine alberne und kopflose Handlungsweise! Die Politik des Herrn Brodetsky hingegen, die zur Judenjagd im Jüdischen Nationalheim geführt hat, war und ist nicht albern und kopflos, sondern genial und mutig.
So sieht die Reaktion auf die Tel-Aviver Ereignisse vom 9. Oktober von seiten der offiziellen ^zionistischen Körperschaften« aus! Nichts natürlicher, als daß die ihnen anhängenden »zionistischen« Zeitungen sich* genau so vernehmen lassen, wenn auch etwas heiserer und verschämter. Charakteristisch ist aber hier,,, daß vorläufig nur jene, die in deutscher Sprache erscheinen, die Brith-Schalom-Trabanten »Selbstwehr« in Prag und »Jüdische Rundschau« in Berlin usw., wäh-« rend die anderen es doch nicht wagen, sich der allgemeinen Volksstimmung entgegenzustellen.
Wenn die Demonstration in Tel-Aviv zu nichts anderem getaugt hätte, als den Mißmut dieses Chors von politischen Jammergestalten hervorzurufen — sie wäre nicht vergebens gewesen.
eines Legislative Council, verstärken die Befürchtungen unter der Judenheit, das England als Mandatarmacht •für Palästina entgegen den gegebenen Versprechungen, und dem Geiste de$ Mandates die Entwicklung des Jüdischen Nationalheims erstarren lassen und die Judeni in ihrer ureigenen Heimat Palästina in ein enges! Ghetto einschließen wolle. Das Manifest ruft die Weltjudenheit zum organisierten planmäßigen Abwehrkampf auf.
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Gen. Repr. für Oesterreich: S. Rabinowitsch, Wien, IU Zirkusgasse 10, Tel. R 48-7-38.