Slonimski,
ein neuhebräisiher Astronom und Erfinder.
In der neuhebräischen Literatur sind die Merke allgemeinen Wissens an Zahl durchaus nicht gering. Einer der ältesten neuhebräischen Schriftsteller, Mordechai Aaron Günzhurg (i-yh— i846), ein Mann von vielseitiger Bildung, verfaßte die erste „Allgemeine Geschichte“ in hebräischer Sprache. Ihm folgte Kalman Schulmann (1817—1889) mit einer neunbändigen Weltgeschichte „Diwre jeme olam“, die in den Jahren 1867 bis i884 erschienen ist. Bücher über Geographie veröffentlichten Samson Bloch, A. 4L Mohr, Schulmann, llillel Kahane, Nalnun Sokolow u. a. Schalom Jakob Abramowitsch, der nachmals unter dem Namen Mendele Mocher Sforim berühmt gewordene jiddische Schriftsteller, verfaßte in hebräischer Sprache eine dreibändige Naturgeschichte „Toledoth Hatewa“ (186:2). Beiträge zur allgemeinen Beligionsgeschichte lieferte Salomon llubin (1823—1910), der auch Spinozas „Ethik“ ins Hebräische übersetzt hat. Eine Geschichte der neueren Philosophie von Ivant bis Hegel gab Fabius Mieses (geh. 1824) heraus. Besondere Erwähnung verdient die Bibliothek der gesamten Naturwissenschaften „Ozar Hachochma we-IIamadda“ von Hirsch Babbinowitsch. Mährend aber alle diese M issensgehiete von keinen Spezialisten, sondern von kenntnisreichen Schriftstellern bearbeitet wurden, wirkte auf dem Gebiete der Mathematik und Astronomie ein wirklicher Fachgelehrter, nämlich der hervorragende Mathematiker und Astronom Cli. S. Slonimski. Chajim Selig Slonimski wurde 1810 zu Bialystok geboren. Bis zu seinem 18. Lebensjahre studierte er ausschließlich Talmud und rabbinische Literatur, und auch nach seiner Verheiratung 1828 setzte er dieses Studium im Hause seines Schwiegervaters fort. Hier spielte ihm der Zufall einige ältere hebräische M erke über Astronomie in die Hand, was für seine weitere geistige Entwicklung von entscheidender Bedeutung wurde. Er lernte nunmehr fremde Sprachen und widmete sich fortan naturwissenschaftlichen, insbesondere mathematischen und astronomischen Studien.
Die erste Frucht dieses Studiums war ein Elementarbuch der einfachen und höheren Algebra, benannt „Mossede Chochma“ (Mdlna 1834)• Als i835 das Erscheinen des Ilalleyschen Kometen die wissenschaftliche M eit in Spannung hielt, veröffentlichte Slonimski das Buch „Kuchba Dischwit“ (M ilna i835, 2. Auf], Warschau i 8 o~), einen Abriß der Geschichte der Astronomie von Kepler bis auf die Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Kometenastronomie und der Umlaufsberechnung des Ilalleyschen Kometen. Sein nächstes Werk „Toledoth Ilaschamajim“ (M arschau i838), Lehrbuch der Astronomie, der Sonnen- und Mondberechnungen, gab Anlaß zu einer jahrelangen wissenschaftlichen Polemik über die jüdische Kalenderberechnung zwischen Slonimski und Hirsch Pineies. Abschließend ist sein Buch über das jüdische Kalenderwesen „Jessode haibur“ (Marschau 1802. 2. Aufl. Schitomir i865). Einzig in ihrer Art, weil auf streng wissenschaftlichen Beweisen fußend, ist die Schrift „Meziat hanefesch wekijuma“ (ebenda 1862, 4- Aufl. ebenda 1880) über das Dasein der Seele und ihre Fortdauer außerhalb des Körpers.
Für eine von ilnn auf Grund einer neuen Zahlentheorie erfundene Bechenmaschine erhielt Slonimski 1844 von der Petersburger Akademie den Demidow-Preis und auf Antrag des Ministers Owarow das Ehrenbürger- recht.
Im selben Jahre kam Slonimski nach Berlin, um hier eine physikalische Erfindung zu verwerten. In der preußischen Hauptstadt war es ihm vergönnt, mit den namhaftesten deutschen Forschern auf dem Gebiete der Mathematik und Astronomie, wie Bessel, Grelle, Enke, Ideler, Jacobv, persönlich bekannt zu werden. Kieler machte ihn mit Alexander v. Humboldt bekannt, der an dem kenntnisreichen polnisch-jüdischen Gelehrten außerordentlich Gefallen fand. Humboldt zeichnete ihn bald durch sein besonderes Mohlwollen aus; Slonimski durfte sein Haus besuchen und ihm seine Forschungsergebnisse mitteilen.
Die Bekanntschaft mit Alexander v. Humboldt zählte Slonimski zu den schönsten Errungenschaften seines Lehens; er war dem Schicksal dankbar, das ihn mit dem Nestor der Naturwissenschaften zusammenführte. Von diesem Dankgefühl legt eine in hebräischer Sprache ahgefaßte Schrift Slonimskis, „Ot Sikaron Alexander v. Humboldt, eine biographische Skizze“ (Berlin 1807) beredtes Zeugnis ah. Das Buch, „dem Nestor des M issens zu seinem achtundachtzigsten Geburtstage gewidmet“, enthält eine ausführliche Lebensbeschreibung Humboldts sowie eine eingehende Besprechung der von ihm in französischer und deutscher I Sprache erschienenen M erke. M eichen Beifall Slonimskis Humboldt-Biographie, die übrigens auf Kosten der Berliner Jüdischen Gemeinde gedruckt wurde, beim hebräischen Lesepublikum fand, beweist der Umstand, daß sie drei Auflagen erlebte — was bei hebräischen Büchern, zumal wenn es sich um Biographien handelt, selten vorkommt.
Da das Vorwort zu dieser biographischen Skizze in kurzem Umriß eine Charakteristik der Persönlichkeit Humboldts entwirft, so möge es hier in einer möglichst wortgetreuen Übertragung wiedergegeben sein. Slonimski schreibt:
„Die Lebensschicksale dieses hervorragenden Mannes (Alexander v. Humboldts) sind mit der Entwicklungsgeschichte der M issenschaften, die sich in den letzten siebzig Jahren verbreiteten, eng verknüpft; alle die Merke und Leistungen, die dieser Große während seines ganzen Lebens mit Mühe und Fleiß vollbracht hat, sind mit den neuesten Forschungen der Naturwissenschaft verwoben und verzweigt. Und wo ist der Alann, der an den Pforten der MVisheit wacht, um das Große und MVmderbare zu schauen, und seine Lippen überströmten nicht von Dank und Lob für diesen großen Forscher? ... Deshalb fand ich es für nützlich, auch den Kindern meines Volkes die Lebensgeschichte dieses bedeutenden Mannes in der ihnen liebgewordenen hebräischen Sprache zu erzählen. Ich beabsichtige in dieser Schrift einerseits hinzuweisen auf den MTssensreichtum unserer Tage und auf die unentwegten Mühen und Strebungen der Forscher, in die Tiefen der Erkenntnis einzudringen und die Mehrheit ans Licht zu fördern, sowie andererseits dem Nestor des M issens ein ewiges Denkmal auf den
Sammelbl. jüd. Wissens 83.