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Wünsche verzichtet zu Gunsten der Gesamtheit, auf so manche Begierden zu Gunsten unseres höheren Ich, auf so manche Regungen des Moments zu Gunsten der Ewigkeit. Auch in Bezug auf das Geistesleben richtet an uns der Jom-Kippur die Frage, ob wir gezehntet. ob wir einen Teil unserer Kräfte und unserer Zeit dem Alltagsleben abgerungen und den höheren Interessen der Menschheit, den Ideen unserer Religion, und den Idealen unseres Herzens gewidmet. ״Und alles, was du mir giebst, will ich dir verzehnten״, sprach der Stammvater. Auch die geistigen Güter müssen dem eigenen Selbst abgetrotzt und der Gesamtheit geweiht werden. Diese Mahnung ist in unsern Tagen, in denen der Mensch ״mit seiner Seele/ mit seinem Geiste sich sein Brot erwirbt, in rastlosem Haschen und Jagen nach Ge- winn, all seine Geisteskräfte und Gemütsmächte in den Frohndienst des Augenblicks, des vergänglichen Seins stellt, sehr am Platze. Am zehnten Tischri verlassen wir allerdings die Thäler der Sinnlichkeit und besteigen die Berge der Sittlichkeit, erheben wir uns über die Niederungen selbstischer Beschäftigung zu den Höhen allgemeinen Menschentums! Issartem? Gleichen aber auch alle unsere Tage dem zehnten Tischri? Suchen wir stets im Geiste des Jom-Kippur zu wirken?

״An jedem Tage wird der Mensch gerichtet, an jedem Tage muss der Mensch sein Thun und Lassen, sein Wirken und Streben, sein Denken und Fühlen beurteilen, sich und die Seinen fragen ,,Erawtem? Habt ihr den Eruw besorgt? Ja m. A. Habt ihr einen geistigen, idealen Eruw geschaffen, der Jude und Jude, Volk und Volk, Mensch und Mensch, verbindet, vereinigt und verbrüdert? Hat ein Herzenseruw, die allgemeine Menschenliebe, die von Herz zu Herz, von Land zu Land, von Haus zu Haus den Geist des Friedens und eine Sabbat- Stimmung trägt: hat ein solcher Eruw uns umspannt? Aruwe chazeros die Glieder unserer Familien und die Häuser unseres Volkes verbunden? Aruve techumin die Scheidewände zwischen Klasse und Klasse, Stand und Stand niedergerissen. Israeliten! Wie schwer leiden wir darunter, dass noch nicht die ganze Menschheit von einem solchen Welteruw umschlungen ist, von einer Herzenseinheit, die alles was Menschenantlitz trägt, verbrüdert und in Israel selbst sollte keine Eintracht, keine Harmonie herrschen? Meine Lieben. Das Versöhnungsfest bringt uns auch nur dann Versöhnung, wenn wir uns mit unseren Mitmenschen versöhnen, nur dann Vergebung, wenn wir unsern Brüdern vergeben, nur dann innige An- dacht, wenn in keiner Höhlung unseres Herzens der Hass ein Heim gefunden. Das hebräische Wort Tephillah erinnert in Rücksicht auf sprachlich ihm verwandte Begriffe an Vereinigung. Nur im Verein mit Anderen findet ein jüdischer Gottesdienst statt. Nicht auf das Gebet des Einzelnen, sondern auf das Zibbur, auf das Zibbur einer Gesellschaft frommer Gemüter legt das Judentum das Hauptgewicht gleichsam andeutend, dass vor und während des Gebetes das Gebot der Nächstenliebe erfüllt werden muss.

Dieser Gedanke gelangt am Klarsten zum Aus- druck in folgender Erzählung, die in einigen

jüdischen Kreisen verbreitet ist: Einst war der Kolnidre-Abend angebrochen und eine grosse jüd. Ge- meinde in Gottesfurcht versammelt und dennoch begann der Gottesdieust nicht, und dennoch wagte niemand die Thorarollen aus der heiligen Lade zu holen, weil die lebendige Thora, der greise Rabbi der Gemeinde nicht erschienen war. Ist ihm ein Unglück zugestossen? Man wusste, dass er sein Haus heil verlassen, und dennoch war er nicht ins Gotteshaus gekommen. In banger Furcht wartete die Ge- meinde; sie entschloss sich endlich doch, ohne

ihn das Gebet zu verrichten. Traurig klang die Stimme der Betenden, die ihren Blick zur Thüre lenken, die Ankunft des Rabbi erwartend. Als sie mit dem Gottesdienst zu Ende waren, erschien der Rabbi heiterer Miene und leuchtenden Antlitzes. Auf allen Zungen lag die Frage nach dem Grunde seines Ausbleibens. Er sprach zu ihnen in schlichten und einfachen, aber erhabenen Worten: Als ich ins Gotteshaus eilte, hörte ich eine weinende Stimme : ich folgte ihr und siehe da es war die Stimme eines zarten Kindleins, das die überfromme Mutter der Aufsicht eines kleinen Schwesterleins überlassen; ich legte, fuhr der Rabbi fort, den Gebet- mantel und das Totenkleid an und verrichtete den wahren Gottesdienst indem ich das Kindlein beruhigte. Fürwahr ein echt jüdischer Gottesdienst, ein Gottesdienst im Heiligtum der Menschenliebe, das erhabenste Gebet, die er- habenste Andacht!! Zuerst die Pflichten gegen Menschen, dann die Pflichten gegen Gott! Zuerst die innere Beleuchtung, die Herzens-Beieuchtung und dann הדליקו אח הנר Zündet das Licht der Andacht an! Betet in Begeisterung für Israel! Dann wirst du o Gott, Quell allen Lichtes, Israel und die ganze Menschheit in Gnade erleuchten! Amen.

Gebet am Yorabend des Sukkoth- Festes.

Allgütiger Gott! Freudigen Herzens feiert heut das Volk Deiner Hut das Fest der Hütten. Du hast Israel dereinst in der Wüste vierzig Jahre in Hütten behütet und durch die Wüste geführt in das Land der Verheissung. Daran denken wir, und froh- genrat schauen wir in die Zukunft, und bangen nicht vor den Winterstürmen und fürchten nicht, dass Flut und Wetter unser Zelt zerstören wird, denn Du spannst über uns das Zelt Deines Friedens. Wir wissen, dass unser ganzes Dasein wie eine Hütte ist, die in der Wüste aufgerichtet wird, aller Unbill des Wetters preisgegeben; und wohnen dennoch sicher und getrost, denn Du bist der Fels, an den unser Zelt sich lehnt, und kein Wind kann es er- schüttern; Du hälst Dein schirmend Dach über uns, und kein Frost und kein Regenschauer dringt durch die leichten Wände.

Wir feiern das Fest der Ernte und bringen des אתרוג prangende Frucht und der Palme hoch- ragenden Zweig und der Myrte lieblich duftendes Blatt und die Reiser der Bachweide, zu einen! Strausse verbunden in Dein Haus. Wir danken Dir, dass Du der Arbeit des Landmannes Deinen Segen

Avr.'