Seile 374.

Israelitische Wochenschrift.

Nr. 24.

ohne daß man sich dabei klar macht, daß man zwar sich be­freit, aber nicht jenem geholfen hat. Ich finde auch, daß man bei wirklich Bedürftigen, die eine Erkundigung nicht zu scheuen haben, fast immer volles Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen findet.

Bevor ich mich nun noch kurz zu der Frage wende, an welchen Stellen man Erkundigungen zur Nachprüfung und Vervollständigung des an Ort und Stelle Ermittelten ansteüen soll, möchte ich noch dem so oft erhobenen Einwand begegnen: Ja, bis Ihr so eine Recherche erledigt habt, können die Leute längst verhungert sein."

Daß man so schnell wie irgend möglich diese Dinge er­ledigen soll, um event. die Gewährung von Hilfe zu beschleu­nigen, ist an sich selbstverständlich. Aber es kann gar keine Rede davon sein, daß im Allgemeinen die uns hier in Berlin entgegentretenden Notstände derartig wären, daß man sich nicht die Zeit nehmen dürfte, den einzelnen Fall erst gründlich zu untersuchen. Gewiß kann einmal blasser Hunger uns entgegenstarren; dann wird man natürlich sofort mit Natu­ralien eingreifen, oder andere geeignete Maßnahmen unmittel­bar veranlassen, um erst Zeit zu gewinnen, nachher die Unter­suchung zu vollenden. Aber das werden seltene Ausnahmen sein. Im Allgemeinen, ich möchte sagen, leider fast immer handelt es sich um lang bestehende, tief eingewurzelte Not­stände, die es vertragen, daß sie nun auch noch verhältnis­mäßig kurze Zeit weiter bestehen, bis man zu ihrer Beseitigung schreitet. Alles das trifft ganz besonders auch für die uns hier in erster Reihe interessierenden Verhältnisse der jüdischen Bittsteller zu.

Es giebt, was die Stellen angeht, an denen die Nach­prüfung stattzufinden hat, ebenfalls keine bestimmte Regel. Die überhaupt dringend zu empfehlende individuelle Behand­lung eines jeden Falles sollte auch hier die Direktive geben. Diese individuelle, nicht theoretische Behandlungsweise wird am besten davor schützen, durch eine Erkundigung dem Bitt­steller event. zu schaden.

Wichtig, aber bedauerlicherweise besonders in unseren Kreisen nicht sehr üblich, ist eine Erkundigung beim zuständigen Armen-Kommissions-Vorsteher, dem Organ der öffentlichen städtischen Armenpflege. Man meint meist, die jüdischen Armen bildeten eine so abgeschlossene Klasse für sich, daß sie mit jenen Organen gar nicht in Berührung kämen. Abgesehen davon, daß das garnicht wünschenswert wäre, weil auch auf dem Gebiet der Armenpflege und vielleicht gerade auf diesem dem Prinzip der Parität volle Geltung verschafft werden muß, ist es auch nicht richtig. Schon manchmal hat die Annahme, daß man dort vonunseren Armen" ja doch nichts wisse, dazu veranlaßt, gar nicht erst Nachfrage zu halten. Dadurch wird man sich zweifellos sehr oft der Mög­lichkeit begeben haben, gerade die wertvollsten und zuverlässigsten Nachrichten zu bekommen, denn es muß erkannt werden, daß bei den städtischen Armenkommisstonen sehr gründliche Ermitte­lungen und Untersuchungen angesteüt werden, und daß ins­besondere die von Vereinen angestellten Recherchen dort sehr oft eine wichtige Berichtigung und Ergänzung finden können. Die Möglichkeit, durch die räumliche Nähe mit den Bitt­stellern in engerem Zusammenhang zu gelangen und sie beob­

achten zu können, giebt den an jenen Stellen gesammelten Erfahrungen einen hohen Wert, und man sollte von ihnen ausgiebigen Gebrauch machen.

Die betreffenden Herren pflegen die gewünschten Auskünfte be­reitwilligst zu erteilen, sind übrigens auch amtlich dazu verpflichtet.

Eine sehr beliebte, weil wenig zeitraubende Erkundigung ist die bei den Nachbarn. Es ist aber darauf allzuviel Wert nicht zu legen, weil bekanntlich Eifersucht und Neid und der so sehr üblicheKlatsch im Haus" eine so große Rolle spielen und es nicht immer leicht ist, den aus so trüben Quellen ge­schöpften Nachrichten den Kern von Wahrheit, den sie ent­halten, zu entnehmen. Daß auch den Auskünften von Wirten und Hausverwaltern oft nur bedingter Wert beizumessen ist, wissen wir ja wohl alle. Man erhält hier leicht etwas zu freundlich gefärbte Nachrichten, wenn es nicht von vornherein gelingt so aufzutreten, daß der Wirt oder Verwalter nicht glauben kann, infolge starker Hervorhebung der Würdigkeit des Bedürftigen durch Vermittelung des recherchierenden Ver­eins in den Besitz des rückständigen Mietszinses zu gelangen. Immerhin kann auf die Erkundigung an diesen Stellen nicht ganz verzichtet werden; dabei dürften Erkundigungen bet frü­heren Wirten maßgebender sein, als bei dem jetzigen.

Man scheut sich vielfach, bei Arbeitgebern nachzufragen, weil man fürchtet, der Arbeitgeber könne schon an der That- sache, daß sein Arbeiter unterstützungsbedürftig ist, Anstoß nehmen. Das ist wohl nur bet ganz bestimmten Arbeitsver­hältnissen, wo es sich um Vertrauensposten handelt, der Fall. Im Allgemeinen wird eine Erkundigung nach Wesen und Ruf des Betreffenden, eine Anfrage, ob mit der Zeit ein Avance­ment und damit Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu erwarten ist, nichts schaden, vielleicht sogar dazu beitragen, das Interesse des Arbeitgebers am Ergehen seines Arbeiters zu wecken oder zu erhöhen. Bedenklich ist es vielleicht hin und wieder, sestzustellen, ob die vom Bittsteller angegebene Lohnhöhe richtig ist.

Ueberaus empfehlenswert erscheint es mir vielfach, mit dem Arzt, der die Bittsteller kennt, in Beziehung zu treten, oder vielleicht einen solchen zur Vervollständigung und Klar­legung der Verhältnisse heranzuziehen. Ich denke dabei nicht-an die Fälle, in denen der Bittsteller etwa ersucht, ihm Mittel zu einer Badekur an die Hand zu geben, und der Vertrauens­arzt nun prüft, ob eine solche überhaupt angezeigt erscheint, oder an Fälle von Vereinen, die nur gegen ärztliche Anweisung Heil- und Stärkungsmittel bewilligen dürfen. Nein, ich meine, in sehr vielen Fällen sollte z. B. erst mit Hilfe des Arztes festgestellt werden, in welchem Zustand der Erwerbsfähigkeit eigentlich die Familienmitglieder sich befinden. Dann würde man sehr oft dazu kommen, eine mit Aufgebot ihrer letzten Kräfte noch thätige Näherin zu veranlassen, mit dem für ihre Gesundheit Verderben bringenden Maschinentreten aufzuhören, und man würde ihr Gelegenheit geben, durch Beseitigung eines lokalen Leidens ihre volle Erwerbskraft wieder zu er­langen ; oder man würde einen im Anfangsstadium der Lungen­tuberkulose erkrankten Familienvater vielleicht auf lange Zeit hinaus noch seiner Familie erhalten können, indem man ihn in einer Lungenheilstätte unterbringt.