Nr. 44. Seite 2. Israelitisches Fmniltenblatt. 31. Oktober 1907. Wohl mehr erreichen, wenn es gelänge, eine größere Anzahl von Männern der Praxis, die sich nicht wie Rabbiner, Lehrer, Schriftsteller und Forscher von Berufswegen mit jüdischen Fragen beschäftigen, zu gewinnen, auf daß fie der jüdischen Gesamtheit ihre auf einem anderen Gebiet des praktischen Lebens gewonnenen Erfahrungen, Beurteilungen jüdischer Angelegenheiten und Kenntnisse von den für jüdische Maßnahmen in Betracht kommenden Verhältnissen zum Besten geben. Wir wissen sehr - wohl, wie selten solche Männer überhaupt find, wie selten sie, zumal wenn fie in der Welt eine ansehnliche Pofition bekleiden, Muße und Neigung für die Ergründung jüdischer Probleme haben, und wie selten sie vor allem sich vor die jüdische Oeffent- lichkeit zu stellen geneigt find. Gerade solche Männer aber hätten unseren Geschichts-, Literatur- uyd Lesevereinen, oder wie fie sich sonst nennen mögen, sehr viel zu sagen, was von dauerndem Werte, auch für die Richtung der Betätigung jü¬ discher Gemeinsamkeits- und Wohltätigkeitsarbeit zu werden verspräche. Wir find wohl über den Verdacht erhaben, „Bücherweisheit" gering zu schätzen. Aber gerade unsere Bücherweisen empfinden am tiefsten, wie wertvoll für fie und die Gesamt¬ heit die Befruchtung durch die Mitarbeit der Praktiker sich gestalten kann. Die Prämie auf die taufe. Von Dr. I. Goldfchmidt- Offenbach a. M. Bei aller Objektivität im Prinzip wird der Mensch im stürmischen Kampfe des Lebens doch wohl nie ganz dahin kommen, in der Beurteilung von Vorgängen, in der Bewertung sozialer Be¬ strebungen die Sache von der Person zu trennen. — Daß diese Wahrheit auch da wieder zu Tage tritt, wo es sich darum handelt, zum „Judentag" Stellung zu nehmen, wird niemand in Erstaunen setzen. Die Kreise, welche den religiösen Liberalismus im Judentum als durchaus verwerflich, als eine Gefahr, ja als eine Fälschung des Judentums be¬ kämpfen, werden in einer Institution, an deren Spitze u. A. Professor Martin Philippson steht, nicht leicht von dem Gefühl der Gegnerschaft sich befreien können, das fie für die religiösen An¬ schauungen des Professor Philippson zu empfinden als ihre Pflicht betrachten, und ihr Urteil über die Institution des Judentages wird natürlich von diesem Gefühle beeinträchtigt sein. Lo nitna thora le maleache hascharete. „Die Thora ist nicht den Engeln gegeben", erkennt der Talmud bereitwilligst in dem gesunden Realismus des Judentums an, und die Gegner des religiösen Liberalismus müßten wahrlich Engel sein, wenn fie auf der Höhe unbedingter Sachlichkeit auch dem Gegner gegenüber schweben sollten. — Natürlich: was dem „Strenggläubigen" recht ist, ist dem „Liberalen" billig. Auch der religiös Frei¬ sinnige im Judentum wird in der Virtuosität der strengen Sachlichkeit nicht die Schranken des Mensch¬ lichen überwinden können, er wird darauf gefaßt sein müssen, daß man ihn an den „Splitter" und den „Balken" erinnern wird. — Mit dieser Ermahnung zur Objektivität an mich selbst, trete ich in die folgende Diskussion ein. — Ein Urteil über den Frankfurter Jubentag in einem hyperorthodoxen Blatte lautet: „ Gleichberechtigung! Wer wollte das Verlangen danach nicht billigen, wer dürfte es den Juden verdenken, wenn fie in diesem Verlangen durchaus einig sind. Und doch will das laute Rufen nach der Gewährung eines selbstver¬ ständlichen Rechts wenig würdevoll erscheinen. Was in einer Eingabe, im Juriftenstil, sich vernünftig und einleuchtend ausnimmt, das wirkt nach unserm Gefühle im höchsten Grade peinlich, wenn es vor einer 1000 köpfigen Menge immer wieder und wieder als der Wünsche höchstes Ziel in allen Tonarten variiert wird. Offiziers- und Beamten¬ stellungen, Geschworenen- und Schöffenämter, ja selbst Richterwürde und Ministerportefeuilles — das alles sollte den Juden lieb und willkommen sein, wenn es ihnen der Staat, wie er als Verfaffungsstaat gewiß sollte und müßte, entgegenbringt, — aber als geistiger Mittelpunkt einer jüdischen Massenversammlung, aufge¬ bauscht zu einer Angelegenheit, von der die Ehre der Judenheit abhängen soll, nimmt sich diese Sehnsucht nach all den äußeren Würden politischer Macht, in unfern Augen wenigstens zu kleinlich aus." — Nicht um dieses Urteil gebührend zu kritisieren, schreibe ich es hier dem Wortlaute nach ab, sondern um dessen Richtigkeit zu prüfen und um Gegensätze zu versöhnen. Ja, ich möchte aus dem „Ankläger" einen „Fürsprecher" machen. Justizrat Bernhard Breslauer (Berlin) hat den Delegierten des „Juden¬ tages" eine Denkschrift über die Zurücksetzung der Juden im Justizdienste von 1875 bis 1907 überreicht. Die statistischen Daten dieser Denkschrift, die auch in diesem Blatte wiedergegeben worden find, führen aus dev Verwaltungspraxis des deutschen Vater¬ landes nackte Tatsachen an, bei denen man Lesfings Worte variieren möchte: „Wer über gewisse Dinge nicht sittlich empört wird, der ist keiner sittlichen Empörung fähig". Es werden zu höheren Stellen 2.6 °/o Juden gegen 18,8 °/ 0 Christen befördert — es ist eine Ungerechtigkeit, aber wir wollen keinen Lärm machen, die Zeit ist noch nicht reif. Wir müssen Geduld haben. — Zu Direktoren und Präsidenten im Justizdienst werden befördert 10,1 °/ 0 Christen gegen 0 % Juden: wir wollen auch diese bittre Pille hinunterwürgen, wollen warten, bis der Verfassungsstaat unser Recht uns „entgegenbringt". Aber wenn gegenüber 2,6 °/ 0 Juden und 18,8 0 /<» Christen 27,8 °/ 0 Getaufte zu höheren Stelle» befördert, und zu Oberlandesgerichtsräten 24,4 °/ 0 Getaufte gegen 8,7 °/ 0 Christen und 2,6 °/ 0 Juden; Direktoren und Präsidenten 7,4 % Getaufte gegen 9.6 °/ 0 Christen und 0 °/ 0 Juden: kann man da auch noch zur Geduld ermahnen? Kann man dem gegenüber auch noch seinen Gleichmut bewahren? Das erscheint als eine ganz direkte staatliche Prämie auf die Taufe, das ist nicht mehr der wissenschaftliche Irrtum eines verblendeten Rassen- Antisemitismus, denn die Rasse wird doch durch die Taufe nicht alteriert, sondern das ist der direkte Kampf des Verfassungsstaates gegen das Judentum als Religion, deren staatliche Berechtigung er an¬ erkennt, zu Gunsten einer anderen Religion; das ist nicht mehr passive, das ist Kampf, Angriff, das ist positive Ungerechtigkeit: sollte da auch daS laute Rufen nach der Gewährung eines selbstverständlichen Rechtes wenig würdevoll erscheinen?" Wäre da nicht im Gegenteil das ruhige Ertragen solcher schreienden Ungerechtigkeit „wenig würdevoll?" Nimmt sich der immer wiederholte laute Protest gegen die staatliche Prämie auf die Taufe auch „garzu kleinlich aus?" Sollte der hhperorthodoxe Tadler sich das wirklich gut überlegt haben, ehe er sich auf den hohen Kothurn stolzen Stoizismus begab und von der Höhe herab dem Frankfurter Judentage die Zensur „wenig würdevoll" und „gar zu kleinlich" erteilte? Nein, das hat er nicht. Er spricht von der „Sehnsucht nach der äußeren Würde politischer Macht", von „Offizier" werden wollen, „Minister" werden wollen. Diesen Faust¬ schlag in das Gesicht der Religion des Judentums, den die staatliche Prämie auf die Taufe bedeutet, hat der selbstgenügsame Tadler nicht in dem Augenblicke gespürt, als er den Frankfurter Juden¬ tag vor der Oeffentlichkeit in Mißkredit bringen wollte. Solchen Tatsachen gegenüber ruhig bleiben, müßte auf jeden, auch auf den Nichtjuden, im höchsten Grade peinlich wirken. Das darf sich keine Religionsgemeinschaft, die noch etwas auf ihre Würde hält, stillschweigend gefallen lassen, da ist kein Ruf zu laut und keine Wiederholung zu viel: da muß der Protest so lange dauern, bis er gehört wird. Und dann die Hauptsache! „Wenig würdevoll!" ,„Jm höchsten Grade peinlich!" „Gar zu kleinlich!" Wenn wir nur Juden wären und nicht Deutsche; wenn wir nur die Rechte des Judentums ver¬ langten; wenn wir nur im Namen des Judentums uns beklagten; wenn wir nur als Juden und nicht als Deutsche uns fühlten: vielleicht wäre dann stille Resignation, „eine Eingabe, im Juristen¬ stil, die sich vernünftig und einleuchtend ausnimmt", wie der Tadler des Judentags es verlangt, ein untertänigstes „vernünftiges" und „einleuchtendes" Bittgesuch mehr „würdevoll", in geringerem Grade peinlich", nicht so „gar zu kleinlich" — vielleicht! Es wäre Gefchmacksache: mancher hat Geschmack im Juristenstil, am „Vernünftigen" und „Ein¬ leuchtenden", mancher am Temperamentvollen, Eindringlichen, äv Kusiibus non est disputandum. Aber wir find Deutsche und nicht bloß Juden, als Deutsche haben die Teilnehmer am Frank¬ furter Judentage den zündenden Protesten der Redner gegen die Ungleichheit vor dem Gesetze, den leidenschaftlichen Forderungen der Gerechtigkeit ein tausendfaches Echo gegeben: als Deutsche! Wir jüdische Deutsche haben als die Opfer der Un¬ gerechtigkeit, wohl auch als natürliche Wesen ein Interesse an dem Siege des Rechts. Aber das moralische Interesse an-der Respektierung der Verfassungs-Rechte hat jeder Deutsche ohne Unterschied des Bekenntnisses in gleichem Maße. Wer trägt denn den Schaden des Unrechts im Staate? Der Staat! das Vaterland! Das Recht ist die Grundlage des Staates. Der Bürger, der Unrecht vom Staate erleidet, hat einen äußerlichen Schaden; der Staat, der Unrecht tut, leidet im Innern, an seiner Gesundheit, Unrecht im Staate ist Krankheit. Dem deutschen Vaterlande dient der flmenfcauifdtjes. Von Alt-Konsul A. 8. Fraukeuthal (gegenwärtig in Cleveland). New-Aorker Geschäftsstraßenöde. Welchen Einfluß die Kinder Israel auf das amerikanische Geschäftsleben ausüben, war am besten am vergangenen Jom Kipur zu erkennen bei einem Gang durch das Geschäftsviertel en gros & detail in New-Aork. Wie ausgestorben waren die Straßen, kein Gedränge, keine Stockungen der Lastfuhrwerke, mit wenig Ausnahmen die Trottoirs frei von Kisten und Ballen, kein tosendes Geräusch der Tausende sich sonst bemerkbar machenden Nähmaschinen; die geschlossenen Türen, die verhängten Fenster mit ihren Affichen in Englisch und Jüdisch: „Geschloffen wegen Feiertag" gaben den Straßen ein ödes, beinahe unheimliches Aussehen. Sogar die elektrischen Tramwagen fuhren meistens leer, ein wahres Wunder in New-Aork. Die Synagogen und die 238 Chevras waren zum Über¬ maß voll. Viel soll auch der den ganzen Tag an¬ haltende schwere Regen dazu beigetragen haben. * * * Gesucht werden 200 Chasonim. Ob es eine Eigentümlichkeit des jüdischen Charakters ist, sich mit seinen Glaubensgenossen nicht verständigen zu wollen oder zu können, will ich dahingestellt sein lassen; sicher ist, bildet sich irgendwo eine Chevra, will ein Jeder Parneß sein oder nicht mitmachen. Dieser Zug ist eben die Ursache, daß New-Aork allein heute 288 Chevras und Synagogen hat, jede von 40 bis 400 Mitgliedern. Welch eine kompakte Kille würde diese Zahl machen, wäre Einheit dort. Moralisch und politisch würden sie eine Kraft bilden, die Forderungen mit'-Nachdruck stellen könnte, die sicherlich gewährt würden, genau so wie die Katholiken eine Einheit, ein geschloffenes Ganzes hier bilden, das moralisch und politisch von, der Regierung unterstützt und bevorzugt wird. Gehören doch 95 pCt. der Stadtpolizisten zu der Konfession und 70 pCt. aller Staatsbeamten bekennen sich zum Katholizismus, da fie in ihrer Einheit eine politische Rolle spielen. Ist es daher ein Wunder, daß augen¬ blicklich im Norden von Amerika in über 200 Chevras Chasonim gesucht werden, um die fortwährend wechselnden Plätze auszufüllen und zu ergänzen. Diese Zersplitterung wird fortfahren, da es mehr unzufriedene Parnosfim giebt, oder solche, die ihren eigenen Willen durchsetzen wollen, als Vorbeter. So wie sich eine Chevra stark genug fühlt, kommt das Bedürfnis, einen Raw zu haben. Die jüdischen theologischen Seminare in Amerika können nicht Schritt halten, das heißt können die jungen Rabbiner nicht schnell genug Hervor¬ bringen, daher finden viele russische und ungarische Gelehrte Plätze als Rabbiner hier. Gewöhnlich find diese der englischen Sprache nicht mächtig, werden jedoch als Lückenbüßer genommen, bis es dem Herrn Parneß, der meistenteils auch kein Englisch kann, ein¬ fällt, einen gefundenen englisch redenden Rabbiner an¬ zustellen; daß dieses einen ordentlichen Zank für und gegen wieder anfacht, ist leicht verständlich. Leider ist all diesen Leuten das amerikanische Motto: „In Union is strenght“ (Vereinigung macht stark) unbekannt. * -i- * 48 Feuer zwischen Kol Nidre und Neila in New-Aork. Die Unachtsamkeit besonders der russischen und polnischen Juden an Feiertagen mit Feuer umzugehen, hat sich letzten Jom Kippur wieder bewiesen. Nicht weniger wie achtundvierzig Feuerausbrüche find im Ostende von New-Aork vorgekommen. Bedenkt man, daß jeder signalisierte Ausbruch die Revier-Dampf¬ spritzen, Leiterwagen, Chefs, Polizei zur Brandstätte ruft, so kostet, wenn der Schaden noch so klein, jedes signalisierte Feuer der Stadt an Auslagen zirka 800 Fr. Die brennenden Jahrzeitlichter waren diesmal die Schuld. In der Nähe von Gardinen plaziert, bei offenem Fenster, Windstoß, und da niemand zu Hause ist, sondern alle mit Kind und Kegel in die Chevras und Synagogen eilen, ist es leicht erklärlich, daß be¬ deutender Schaden angerichtet wurde. Die Rivington Street-Synagoge mußte während der Schemone Esre am Kol Nidre-Abend polizeilich geräumt werden, da über derselben eben ein solches Feuer ausgebrochen war. * *. * * „Gefesselte" Chasonim -Stimmen. Loschen hakodesch ist zur Weltsprache geworden. Um das jüdische Element heranzuziehen, haben gewisse billige Vergnügungslokale vor ihrer Türe im Ostende von New-Aork gewaltige Sprechmaschinen, die soge¬ nannten Edison-Phonographen mit meterlangem Trichter aufgestellt, die die besten Chasonimstimmen in der Widui, Kol Nidre, Lechododi u. s. w. wiedergeben. Ein mich begleitender Amerikaner fragte, aus welcher italienischen Oper das Stück sei. * * * Neue Synagogen, kostbare Gebäude in Amerika. In Rochester im Staat New-Aork hat eine Zer¬ splitterung der Kille stattgefunden. Die ausgetretenen Mitglieder wieder mit einem neuen Parneß, einem Herrn Davis, nennen sich „Halb-Orthodoxe". Was |