Nr. 31. Seite 2. Israelitisches Familienblatt. ___ 1. August 1918. Jugend und der Frau als eine Lebensfrage des Judentums angesehen. Heute verschließt sich kaum einer der Erkenntnis, daß ohne intensive Mithilfe aller nichts erreicht werden kann, wohin auch immer wir im Judentum zu steuern suchen. Wenn das Alter die Jugend heranzieht, wenn alle das Interesse der Frau wachzurufen trachten, so ist auch das ein Be¬ weis dafür, daß man heute die jüdische Sache mit ganz anderen Augen ansieht als früher. Wir sind im Kriege jüdischer gewor¬ den. Stolz dürfen wir sein, die Frage, die wir ge¬ stellt haben, so beantworten zu können. Allerdings wer die Dinge nur von» religiösen Standpunkt aus betrachtet, wird uns nicht unbedingt zustimmen kön¬ nen. lind anderseits, wem das Judentum nur ein politisches Gebilde gleichviel welcher Art ist, wird ebensowenig zufrieden sein. Dem einen sind die Inden zu sehr jüdisck)e Politiker, dem anderen sind sie zu religiös geworden. Aber ein jeder muß zugeben, daß durchweg das Interesse, das die einzelnen dem Judentum gegenüber empfinden, ein erheblich tiefe¬ res geworden ist, als es vordem war. Wir stehen noch in einer Periode der Entwickelung. Ein jeder sucht erst sein Verhältnis zum Judentum zu regeln. Worte genügen nicht mehr,, sondern wir wollen uns innerlich mit unserer Gemeinschaft ganz verwachsen fühlen. Wir wissen noch nicht, umhin die Entwicke¬ lung drängt. Aber »vir dürfen beruhigt sein: eine unter solchen Vorzeichen begonnene Aera kann nur dem Judentum zum Nullen werden. Daher aber auch die erhöhte Arbeit. In ihr und durch sie wollen »vir die Wahrheit finde»», die unser Bekenntnis zuin Indent»»»»» darstellen »vird. Wohl si»»d »vir heilte schon im Hinblick ans das, »vas vorder»» »var, jüdischer geivorden. Aber erst da»»»», tvenn »vir alle eins sind »irrt unsere»»» Glauben, dürfen »vir mit vollem Recht sagen, daß »vir jüdisch sirid. Sin notwendiges Gespräch. Von Militans. 11 nb »nieder einmal wußten etliche zu erzählen: „Ach, »nir batten übrigens reizenden Verkehr in Tinrbaden, ■— christliche Herrschaste»», eine Falwikantensainilie, — sie habe»» »ms natür- lich gar nicht für Inden gehalten, und »vir »varcn doch cigen'tlich jeden Tag zusammen, bis »vir cibfnhren, — s o nette Leute, sicher gar kein Risches, denken Cie, im Gespräch hat die Frau erzählt, das nnd das halte sie „beim Jude»» gekauft, aber »virklich ein reelles Geschäft," n»id so, nnd —" „Erlauben Cie mal, das „aber" sagt doch eigentlich genug. Haben Cie ihr das nicht klar gemacht?" „Nun, sie haben »i»»s doch gar nicht für Juden gehalten, Doktor." „Da hätte ich »»»ich eben zu erkennen gegeben, lieber Freund, nn» ihnen das klar zu machen." „Gott, dabei hulwn sie sich sicher garnichts gedacht; das sagen sie so — aus Gewohnheit." „Und meinen Cie nicht, Verehrte, das» es a»» der Zeit wäre, daß solche christlichen „Herrschaften" solche Glvvhuheit ausgeben? Cie solle»» sich eben „»vas dabei denken" u»id nicht alleiveil die Zugehörigkeit irgend eines Mensche»»" znm Jndenknm hervorkehren — entweder mit einer Spitze gegen, i h n oder gegen das Indentn »»», aus den» sie ihn wohl- tvollend als rühmliche Ausnahme herausheben. Ich weiß: was ich hier sage, ist hundertemale gesagt »vorden und geschrie¬ ben »vorder» — nute r und f ü r Juden, aber so lange intmer noch vergeblich, »me Juden in Ihrem Fall es »»ich! den a »» d e r e n sage»»." „Nun, soll man »virklich inrmer gleich Risches machen?" „Risclws machen? Neil», bester Herr, aber beseili- g e n. Sehen Sie mal, über die andere Seite, über die des Persönlichen Selbstgefühls und des Gemeinschastsgefühls »vill ich mir nicht erlauben, Ihnen eine Vorlesung zu halten. Da muß jeder tun, was ihm f ü r uird v o r sich selber gut genug ist. Ich meine allerdings — Sie sind ja wohl auch Berliner, nichts —: tvenn irgendwer, ohne zu tvissen, daß Sie es sind, Ihnen von einen» Berliner redete, der „aber garnicht so großmäulig >var", lvürden Sie »vohl loslegen, und mit Recht: Erlauben Sie malJ Aber als Jude, der Sie sind, und Sie halten ffch doch für einen ganz guten Juden — und tvenn irgendwer, ohi»e zu »vissen, daß Sie es si»»d, Jh»»en von einem Juden redet, „der aber ein anständiger Mensch" sei, schwei¬ gen Sie still, um nn» Gottes »villen „keinen Risches zu »nache»»", »vem» Sie Farbe bekennen? Aber das »vollte ich I Ihnen ja garnicht Vorhalte»», nein, sehen Sie denn garnicht, eine wie schöne Gelegenheit „zur Bekämpfung des Antiseini- tisnrus" Sie versäuint habe»», eine Gelege»»heit, Judengegner zu entwaffnen oder aus Juden f r e n» b e Juden freunde zu machen? Jene „reizenden Leute" da in Dinxbaden kennen vielleicht Juden aus eigener Beziehung wei»ig, — wahr¬ scheinlich, denn sonst (Sie nehmen mir das hoffentlich nicht übel, meine Herrschaften!) hätten sie vielleicht auch Sie nicht verkannt — ja, vielleicht gelten ihnen auch nach einer Einzel- ersahrung oder lediglich aus dem Erbgut ihrer Erzieherweis- heit krnmmnasige Korpulenz oder auffallendes Gebaren oder allbereite Profitgier oder gar nur all das 'zusammen als not¬ wendige und zuverlässige Merkmale von Inden, und sie haben schon so manche Juden „nicht dafür gehalten", »veil sie eben so n i a» t waren. Nnd Sie waren nun auch in dieser, Ihnen in gewissem Grade schmeichelnden Lage, und —" „Sie brauchen garnicht zu spötteln, Herr. Doktor!" „Will ich ja garnicht, liebe, gnädige Frau." „Als wenn wir uns unseres Judentums schärnten!" „Aber nicht doch; »vie sollte es Ihnen unlieb »eii», das» man Sie nicht nach den Merkmale»» unserer uns selber unerfreu¬ lichsten Erscheinungen etikettieren kann. Aber Sie konnten doch gerade, indem Sie sich zu erkennen gaben und sich jenem vermeintlichen anderen Ausnahmejuden mit dem „aber"-reellen Geschäft an die Seite stellten, Ihren christ- lichen Bekannten die Augen dafür austu»», daß ihre Verallge¬ meinerung Vorurteil ist, und dast die Mehrheit ihrer jüdischen Landsleute von ihnen unbeachtet bleibt, eben »veil sie ihrem Vorurteil nicht entspricht und damit ihr Vorurteil widerlegt! Ich habe noch säst immer gefunden, dast sie mir Recht gaben, wenn ich ihnen nakwlegte, aus ihrem persönlichen Ersah- rungskreis die angeblichen „Ausnahme"juden gegen die an¬ geblich „echtjüdischen" auszustellen, und ihnen vorhielt, dast sie sich ihr Vorurteil, oft ohne böse Absicht, bloß dadurch weiter vorlüaen, dast sie eben in Jngriinm über Hinz und Kunz und Krause diese „der Schweinehund!" und über Cohn diesen „der Jude!" schimpfen." „Nun, so ist es doch »virklich." „Ja, Bester, »vas habe»» wir davon, dast Sie n»»r das zugeben, >v i r »vissen es ja. Warum haben Sie es aber Ihren Badebekannten nicht gesagt? Die sollen es doch einsehen! Und »vürden es, gerade, »venn Sie in Jkp'er friedfertig unaggressiv konzilianten Art es ihnen zeigten, lieber zngeben, als zun» Beispiel mir mit meiner C'Rirfe." „Sie haben ja vielleicht Recht, Dr »or, aber — es kann auch nicht jeder so reden." ' „Lieber Herr, wenn Cie ein si ilchen von der Ueber- zcugungskrast, mit der ich Sie voriges Jahr die große Trans¬ aktion mit P. & Eo. habe zustande bringen hören, auf diese jüdische, gewiß in anderem Sinne, aber, wie Sig mir doch zngeben, nicht minder »nichtige Sache, wendeten, so »var Ihre Ihre nette christliche Fabrikantenfamilie glatt überzeugt nnd gewonnen. Aber ich bin noch nicht mal se-rtig. Sie haben nicht nur die Gelegenhet versäumt, Risches zu bekämpfen, sondern Sie. können gerade damit Risches geinacht haben, nnd dann, was das Traurigste ist, berechtigten, den berech¬ tigten." „Nein, Doktor, das können Sie m'r nicht vormachen." „So? Das »vill ich Ihnen gleich „vormachen". Kommt meinethalben au» Tage nach Ihrer Abreise einer mit Ihrem netten Fabrikanten ins Gespräch und memj belüufig: „Ich habe »»»ich eejendlich gewundert, dast Sie mit den Beersenjuden innner zesamm' sain gönnten. Ich verkehre mit geen' Juden. Was, das »varen geene? Na, hären Se mal, Sie sin aber naiv. Wo war er hör? Berlin? Un die Frau aus Breslau kebirtij? Un — na ich genn mich doch ans. Ja, »venn Sie auch »lischt kemerlt Ham! Die gen»»' ooch kanz gnsch dnn, wenn sie »»ich kcnng unter „unsre Lait" sind; das sin de Schlimmsten!" „Aber »vir haben doch auch mal über Juden geredet, und da haben sie auch nicht gesagt, dast sie jüdisch sind." „Die »värn sich hieteul Das is ja äbn; da sin se fain stille und denken: last dän mair »lischt mergen; da gen' mer um so besser unfern Rebbach an ihm machen." „Nu hören Sie aber auf, Doktor!" „Das bin ja auch »licht i ch der so redet, Bester, sondern der Antisemit in Dinxbaden; aber »venn selbst Ihr Fabrikant Sie in Schutz niinmt: so sei der Mann nicht, dazu halbe er ihn zu gut kennen gelernt, um so »ovs zu glauben,— dann antwortet ihm der andere immer noch: „Na, dann »vär er '»» »veister Rabe! Aber denn blieb's ooch immer noch »>e Faij- heet, nischt ze sayen und stille ze hocken, »venn eener »vas über saine Laite redt. Aber so sin se, haimdickisch und saije, — so sin se alle!" — sagt der Mann in Dinxbaoen, Verehrter,' und Ihre netten Leute, denen Sie i»n anderen Fall von» ersten Worte an Waffen für das Jndentum geliehen hätten, müssen ihm Recht geben. Ist es nicht so?" „Ja, Verehrter-, das Leben i st nicht „gemütlich". Es ist auch »oohl nicht gut; noch lange nicht. Aber es »vüre sicher schon besser, »venn nicht eben die »neisten so ängllich darauf hielten, daß es nur ja „gemütlich" bleibe. —' Also Prost, seien »vir gemütlich!" „Gott, »veistt Du, mußtest Du denn wieder mal die Leute brüskieren und schulmeistern? Last doch jeden auf seinen Grund —" „Ja, es ging aber um unser aller gemeinsamen Grund, ager piiblicus." „Aber mußt D u Dich denn »vieder als öffentlicher Pcirk- »vächter auspflanze»»?" „D i e Anlagen si»»d dein Schutze des Publikums empfoh¬ len. Und übrigens: Hatte er denn Recht, als er schmieg?" „Nein, gewiß nicht, aber —" „Und da sollte ich schtveigen?" Line Vertretung der Juden der Mittelmächte beim Lrotzwesir. Bei seiner Anwesenheit in Berlin zu Beginn dieses Jahres sprach der türkische G r o st »v e j i r einer jüdischen Abordnung gegenülwr den Wunsch aus, mit einer Vertretung der Inden der Mittelinächte in Konstantinopel über . die jüdische Einwanderung in die Türkei und andere hiermit zusammenhängende Fragen zu verhandeln. Jii'der Tal liest die ottomanische Negierung »in Frühjahr Einladungen zu einer solche»» Konferenz an einige Organisntiv- nei» ergehen, die sich mit der jüdischen "Kolonisierung der Türkei, insbesoichere Palästinas, beschäftigen, so an die „Freie Vereinigung des gesetzestreuen Judentums", die „Zio¬ nistische Organisation", die „Viod" (Vereinigung jüdischer Organisationen Deutschlands) u»»d das „Oesterreichische Ko.nitee für den Orierrt". Von der „Freien Vereinigung" traf in Konstantinopel eine fünfgliedrige Delegation unter Führung des Herrn Rosenbaum aus Frankfurt a. M. ein, die „Zionistische Organisation" vertrat ein Viererkomitee, das zu.seinein Sprecher Herrn Dr. Jacobsohn gewählt hatte, die „Viod" hatte Herrn Dr. Kahn, das „Oester¬ reichische Komitee für den Orient" Herrn Rabbiner Dr. Gruntvald entsandt. Einige Delegierte »varen im letzter Stunde am Erscheinen verhindert worden, so Dr. Nathan und Dr. Hantke von der „Viod" durch eine von uns bereits gemeldete Reise nach Bukarest, Dr. Bruno Pollock von Pari» au (Wien) von» „Oesterreichische»» Komitee" durch sein militärisches Dienstverhältnis, kgl. Rat Dr. F. Mezet» (Budapest) durch eine Verzögerung in der Pa߬ erteilung. Im Schoße dieser Delegation fanden zunächst eingehende Beratungen statt, um der ottomanischen Regierung, die in ihrer Einladung ausdrücklich von der Schaffung eines jüdischen Zentrums in P a l ä st i n a 3 gesprochen hatte, ein einheitliches Programm vorlegen zu können. Diese von allen Billigten mit dem ernsten Streben nach gegen¬ seitiger Verständigung geführten Erörterungen zeitigten schon an uird für sich wertvolle Ergebnisse. Mitten in diese Bespre¬ chungen drangen höchst beunruhigende Nachrichten über ver¬ schiedene an Inden in Palästina und sonst in der Türkei verübte G e >o a l t t a t e n. Die Unterdrückung dieser Aus¬ schreitungen bei der Hohen Pforte mit Nachdruck durchzn- setzen, erklärte die Delegation für eine unaufschiebbare Pflicht. Am Sonntag, den (4. dieses Monats, fand der feier¬ liche Empfang beim G r o st w e s i r statt. In geivohnt Iiel>enstvürdiger Form sprach T a l a a t Pascha seine Bereitwilligkeit aus, in» Sinne der von »hm an die Dele¬ gierten gerichteten Einladung dem Problein der jüdischen Einrvand'erung und der Kolonisation in die Türkei, insbeson¬ dere in Palästina, näherzutreten. Die Prüfung der Einzel¬ heiten soll die Aufgabe eines Komitees bilden, in das die Hohe Pforte bereits zwei Regierungsbeamte und drei Nota¬ bel»» der türkischen Judenheit zu entsenden gedenkt. Der von „Der Herr Kantor tut mer oft loben," sagte"das Kind halb verlegen, halb selbstgefällig, „ich kann auch schon sagen das „Schma jisroel", setzte es hinzu u»»>d begann die hebräische»» Worte zu sprechen, die schwere, uralte, dunkle Sprache lang¬ sam und feierlich betonend, die nun doppelt abgründig so aus jungem .Kindesmunde klang. Noch ganz im Rauschen und Wogen dieser Sprache ging Ruth von David fort, und auf der abenddunklen Straße hin bis nach Hause. Es »nährte heute nicht lange, bis sie dann ihr Lager cins- snchte, zu _ früh fast für die prächtige Sonimerlichkeit da draußen, die noch immer ein »veiüg von ganz ferner Taghelle nmschimmert vor dem Fenster lag. Aber nicht an jenem letzten Lichtdämmerschein lag es, dast Ruth noch lange offene Augen behielt, über die der Schlaf vergebens hintasiete. Als er dann endlich sein Recht gefunden hatte, »nustte er sich »vohl entschließen, alle wunderlichen Gestalten, die vor den gevsfne- ten Augen gezittert, geirrlichtert hatten, mit unter den decken¬ den Lidern zu behalten: Kleine, schtvarzköpfige Judenkinder standen in langer Reihe da nnd sagte»» gemeinsam und in seltsamer Tciktmäßig- kcit das Schma Jisroel, und iuinier dazrvisclp.'»» rief eine hohe gelle Stimme: „Nächstes Jahr in Jerusalem — nächstes Jahr in Jerusalem." Plötzlich »nieder streckte sich eine Straße — aber gleichsam ins Unendliche vervielfältigt und verlängert hin — ein Mensch im Mantel, bis zu den Füßen sich senkend, in »vildem, langem Haar ums graue Antlitz, stand allein, ein¬ sam in der verödeten Straße. Er hob die Hände gegen den .Himmel, und wieder plötzlich, als hätte sie aus jener Gestalt her sich entivickelt, strömte die Straße auf und nieder eine Menschenmasse. Sie »vogte vorüber, lebhaft uird bewegt, aber dabei mit jener Eintönigkeit der Beivegungen, die im Traum oft über den lebhaftesten Vorgang.»» zu liegen pflegt. Der seidene Gebetsmanlel wehte von den Schultern aller. Alle diese Inden gingen liebreich grüßend aneinander vorbei, nnd reichte»» sich im Vorübergehen brüderhaft die Hände. Dann, auf einmal lagen sie in getrennten Reihen zu Boden, und bunte Uniformen leuchteten an den Gestalten, Helme blitzten aus de»» Häuptern, die Gewehre sausten und zischten und knatterten Kugel»» und Feuerspritzer gegeneinander, und über alle die mannigfachen Uniformen, um alle Schulter!» der sich Bekämpfenden hüllte fiel) der glänzende seidene Gebetmantel. Ganz allein, gesondert von den Käntpsenden, hockte David an» Boden, er hob seine»» Gebeismantel airf und sagte zuversicht¬ lich u»»Ä beruhigend: ,/Nächstes Jahr in Jerusalem." Ne»»», Moritz, er hat teider Recht. 12 ] hei! * w .m ■imin. Gertrud Epstein. »mb mehr brauchte sie — das »var wohl die Sie »vußte es nicht mehr weiter, auch nicht. Wunder, längst vorbei, letzte Wahrheit nnd alles Ende. Der jüdischen Zeitschrift wegen, die er ihr noch heute zeigen wollte, stieg Ruth jetzt mit David die Treppe z»'' Wohnung seiner Eltern empor. Seit ihrer Kindheit »varen ihr diese ärmlichen Stuben bekannt, die immer die gleichen Räume blieben, »venn sie sich anci» von Zeit zu Zeit immer einmal in einem anderen Hanse befanden. In der jetzigen Wohnung »var insofern ein«' kl.ine Aenderung den anderen gegenüber vorgegangen, als David hier als Weitester nnd als bereits Verdienender einen winzigen, zellenartigen Raun» für sich zu eigen halte, in den» sein Bett stand und zu den» die allgemeine Familienstnbe noch einen'Stuhl nnd einen kleinen Tisch her- gegeben batte, mährend ein kleiner eiserner Waschständer, von David selber angeschafst, funkelnagelneu nnd leuchtend blau »md golden geslrictzen, inmitten aller Verbrauchtheit glänzte. Das braune, morsche Tischchen schien jeden Augenblick unter der Biicherlait, die darauf lag, geknickt zu »verden. Auf einen .Haufen übereinander gestapelt lag allerlei oft schon elrvas schadhafte Büchccware, billig vom Antianar znsttmmengeknnft, dazwischen einige der gelben Rellameheste, zu denen sich jetzt das neuerworbene gesellte. Trotz aller Zusälliakeit, Gelegen- heilskauses nnd Tiödelhandliing, die diese Bücher atmeten, »var inhaltlich kein Cchundbnch, lein eigentlicher Schmöker darunter, wenn auch die meist naturn issenscha'llichen Abhand¬ lungen und einige belletristische Bücher nicht immer von den besten Versasiern herrühren mochten. Neben dieser Bücherei türmte sich eine andere, die, gut gebunden und sorgfältig gehalten, dem Bücherschrank des jungen Jonas Stern ent¬ stammte. Es »varen ausschließlich Werke über das Indent»»»», »md ans ihm hervorgogangene. Oben ans diese»» festen, oft »nnfangceichen Bänden lagen einige der dünnen, dunkel¬ blauen Hefte, die die Ursache geworden »varen, daß der ganze Bücher schätz unter ihne-Z jetzt hier ans dem zerbrecküichen Tisch in dem Kämn»erchen lag. David suchte zwischen ihnen. „In einem .Heft," > ,che er, hastig vor Glück nnd Eifer, „sind ganz besonders seine Bilder zu setzen, von e jüdischen Maler gemalt. Ist. ein Bild dabei, >vo ist darauf zu sehen e aller frommer Jud, der umlegt de Gebetriemen un» seine Hand, »mb e anderes, »vo ei»»er hat im Talmud gelesen, n»»d spricht mit e anderen darüber, nnd das Buch liegt vor ihm, n»»d er zeigt ans de Stelle, die er meint. Wieder auf e anderes Bild ist gemalt e C»»nagoge, »vo der Rabbi hält Gottesdienst nnd de Männer sitze»» ans de Bänke in ihre Gebetsmanlel, genau »vie in Wahrheit." Er hatte das Heft gefunden und legte es vor Ruth hin. Die neigte ihr Gesicht halb hastig halb scheu hinein. Sie schaute auf die Judenbilder, die David genannt hatte — den Israeliten mit dem Gebetsriemen, den Rabbi uud auf die anderen. Die Trauer und Verlorenheit ihres Stammes lag ein wenig aus den Menschen all dieser Bilder, nnd vielleicht »in» so mehr, als der Maler selber es »vohl nickjt gerade beabsichtigt hatte, sie kundzntnn, sondern seine Inden in der freien Äusübnng ihrer heiligen Branche und ihre Lebensart recht glänzend, sicher nnd geborgen hatte darstellen wollen. Verfolgtheil nnd Versunkenheit glomm dennoch ans Gestalten nnd Antlitzen, trotzdem sie in Freiheit und Ungehemmtheit heimatlicher Art nachgehen durften. Es »var schauerlich nnd rührend zugleich, daß dieser Jude, der keine Bilder vom Jndenelend gemalt hatte, sondern seine Inden im Stolze der Berechtigung, der Freudigkeit ihrer »Kasse und Religion darstellen »vollte, dennoch in allen Glanz nnd alle Sick-erheit das Ghetto mit halte hineinmnlen müssen. Ruth mit ihrem von Kindheit an geschärften nnd vom Juden¬ tum znrückgeschenchten Blick empfand diese Verlorenheit im äußerlich Sichern. Sie sah, und dazwischen sprach es immer leise in '^r hin: „Wunder, längst vorbei". Aber seltsam — sie tonnt, jetzt nicht, »vie früher stets, die Dunkelheit Judas von sich »verfen nnd »veisen, und sich entschieden .anderem, lichterem Volke znwenden, sondern sie fühlte, wie ihre Seele sanft jener Dunkelheit sich znneigte, und wnnderlich! in ihr ein HeimatSlönen vernahm. „Jüdin" sprach es in ihr — ich hin ja Jüdin — das Blut Israels dnrchjickert meine Adern — das fühle ich jetzt — ich bin Jüdin, aber »vas »var ich bisher? Sie legte das blaue Heft »vieder zu den Büchern, nnd als David sie fragend ansah, nickte sie srenndlich nnd bejahend, ein wenig abivesend zwar — aber er war es zufrieden. Dann ging Ruth nach zu kurzer Begrüßung in die andere Stube nebenan, wo sie die jüngeren Geschwister Davids vorsand. Mit einer ganz beson¬ deren Rührung, ja Hingegebenheit strich Ruth heule den kleinen, dnnkelköpfigen Jndenkindern über Haar und Wangen, ihr »var, als hätte sie bisher etivas an ihnen versäumt. „Lernst du auch immer gut für die hebräische Stunde?" fragte sie das zehnjährige krausköpfige Mädchen, und »vußte selber nicht, »vie ihr diese Frage kam. |