562 Seltsame Genossen haben sich in den Unter¬ schriften des Neichsausschusses für ein Volks¬ begehren gegen den Joung-Plan zusammen- gesunden. Große Erwartungen knüpfen die Kreise des neuen Nationalismus an diese erste nationale Einheitsfront. Die ,„S t a n d a r t e" schreibt in ihrer Ausgabe vom 12. Oktober: „E s geht nicht um eine politische Entscheidung, es geht u m die Frage des Willens Zur Entscheidung." Der „Jungdeutsche", der jahrelang Ge¬ legenheit hatte, hinter die Kulissen der Be¬ strebungen aus Schaffung einer nationalen Ein¬ heitsfront zu schauen, uberschreibt (4. Oktober) einen Aufsatz „N atloser Nationalis¬ mus", in dem es heißt: „...es konnte nicht ausbleiben, daß sich großer Kreise der nationa¬ len Masse eine Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bemächtigte, die schließlich, psychologisch gesehen, den Grund dafür abgeben, daß diese Masse unüberlegt sich ein Volksbegehren ausschwatzen läßt, von dem sie sich Wunder verspricht. . . . Schon einmal führte der Mangel an positiven Ideen diesen ratlos gewordenen Nationalismus Zum Cannäe: München, den 9. November 1923!" Im „Stahlhelm" beginnen Zersetzungs- erscheinungen. Diese kameradschaftliche Ver¬ einigung von Frontsoldaten, als die sie ge¬ gründet wurde, wollen viele Anhänger als Poli¬ tisches Machtinstrument gewisser Kreise nicht mißbraucht sehen. Die Tatsache des Front- kämpsertums gilt ihnen nicht als hinreichender Befähigungsnachweis für die Führung der Politik. Und bei aller Bewunderung vor dem Heldenmut echter Frontkämpfer und bei allem Wunsche, daß ihnen für ihre Opferseudig- keit auch die dankbare Heimat Opfer bringen müsse: Frontkämpfer als geborene politische Führer sind nur in einem Staate denkbar, für den der Frieden die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln ist. Die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes will aber den wahren Frieden. Das Volksbegehren hat die National¬ sozialisten, die den H o f ton bewunde¬ rungswürdig beherrschen, nun auch s a l o n - fähig gemacht. Sie spielen das enkant terrible, und aus pädagogischen Gründen könnte man auch das Porzellan, das sie zerbrechen, für kurze Zeit in Kauf nehmen, wenn sich der Reichsausschuß verpflichtete, die Kosten zu be¬ zahlen. Da aber das ganze Volk leicht. zum Leidtragenden werden kann, hat die Regierung — worüber wiv an anderer Stelle dieses Blattes berichten — in einigen besonders ge¬ fährdeten Gegenden Ortsgruppen der Partei ausgelöst. Eine Stilprobe für' viele. Der Ab¬ geordnete Kube sagte im großen Saal der „Neuen Welt" zu Berlin am 11. Oktober: „Der Schmutz der Demokratie sei die dreckigste Pestilenz, die je über ein Volk gekommen sei." Anscheinend hat Herr Kube, und mit ihm seine Freunde, nicht gelesen, was Helmuth von Mücke, damals noch nationalsozialistischer Abgeordneter und Führer, am 29. August d. I. an einen Parteigenossen schrieb: „Vollkommen vom Geld abhängig und rein parlamentarisch eingestellt, unterscheidet sich die (national¬ sozialistische) Partei in keiner Weise von jeder x-beliebigen bürgerlichen, patriotischen Re¬ klamepartei. Nicht d i e K ö n n e r sind obenauf, sondern die Schwätze r." Der „Reichsausschuß" nennt sein Volks¬ begehren „Freiheitsgesetz".. In einer Beziehung trifft der Name zu. Seine Anhänger nehmen sich jede Freiheit, damit es Gesetz wird. * Professor Martin Hobohin erinnert in einem „T a g e b u ch"-Aufsatz in dankenswerter Weise an eine Aeußerung von Professor Hans Delbrück, die in das Gerede von Nationalis¬ mus und nationaler Einheitsfront die starke Klarheit eines überlegenen Geistes hineinträgt. Im „P r o g r a m m d e r p r e u ß i s ch e n Jahrbücher" schrieb Delbrück vor nun¬ mehr 30 Jahren: „Das hohe Ideal unserer Väter war, daß der deutsche Nationalstaat ent¬ stehen solle, ohne daß der Deutsche in die Ge¬ hässigkeit und Exklusivität verfalle, die wir bei anderen Nationen als Chauvinismus, Jiugo- tum, Moskowiterei brandmarken. . . Dieses Ideal droht uns verloren zu gehen. Die edleren Geister beginnen mit Schrecken auf die Formen zu sehen, in denen sich heute das nationale Gefühl bewegt, und aus die Sorte von Menschen, die sich erdreistet in nationalen Fragen die Führung zu über¬ nehmen." Die Stimme dieses Mannes, der große Zusammenhänge und das Aus und Ab der Völker und Nationen zu überblicken fähig war, führt uns ans den grellen Tagesdebatten zu den Problemen unserer Weltanschauung zu¬ rück. In einen Nationalstaat Delbrückscher Prägung fügen wir uns mit Kops und Herz ein. Volksgenossen, die vom Nationalgefühl Fichtes und vom Humanismus Goethes er¬ füllt sind, kennen nicht den Begriff des „V o l k ohne Na u m". Unzählige Hände werden ge¬ braucht, um die Fundamente der deutschen Zu¬ kunft und auf ihnen das sü r alle wo h n- I i ch e Gebäude deutscher Freiheit zu er¬ richten, das bestehen wird, wenn Uoung-Plan und Dawes-Fesseln und der Kamps um sie nur noch Unterrichtsstoff in Geschichtsstunden sein werden. Me sie Stttsemmm schmähen ♦ ♦ ♦ „. . . Er ist gehaßt und befehdet worden von seinen Gegnern, wie in einem ähnlichen Ausmaß selten ein Politiker und ein Staats¬ mann befehdet worden ist. . . . Unbegreiflich Witt mir der Haß erscheinen, mit dem dieser Mann verfolgt worden ist. Unbegreiflich will mir erscheinen, daß man es gewagt hat, diesem treuesten Patrioten die politische, die nationale und die persön¬ liche Ehre abzusprechen." In traurigem Widerspruch zu diesen Worten, die der Vizepräsident des Deutschen Reichstags, Abgeordneter v. Kardorff, in seiner Gedenkrede auf Stresemann sprach, stehen die Aeußerungen national¬ sozialistischer und verwandter Presse, die mit ihrem Haß weder vor der Persönlichkeit des von der ganzen Welt verehrten Staats¬ mannes, noch vor seiner mörderischen Krank¬ heit, noch vor seinem tragisch frühen Tode haltmachen. Die meisten dieser Aeußerungen sind von solcher Niedrigkeit der Gesinnung, daß wir von einer Veröffentlichung in der letzten Nummer unserer Zeitung Abstand nahmen; denn Strefemanns Tod schien uns noch zu nah, um seine Gegner bei uns zu zitieren. Wenn wir jetzt eine Auswahl dieser Schmähungen hier wiedergeben, so ge¬ schieht es lediglich, um zu zeigen, mit wie elenden Waffen die Nationalsozialisten auch hier wieder einmal gearbeitet haben. „Der Angriff" von Dr. Goebbels ver¬ öffentlichte am 10. September 1928 einen Leitartikel mit Vierspaltiger Ueberschrist: „Strefemanns Lebenstage gezählt! Zunahme bedenklicher Krankheitszeichen — seine Niere schrumpft. — Wer wird Außenminister?" In diesem Artikel heißt es: „Wie wir hierzu von einem Vertrauensmanne aus der Umgebung des - ärztlichen Beraters Ltresemanns, des — nebenbei bemerkt jüdischen — Professor Zondek, erfahren, ist das Befinden des Außenministers jedoch noch weit schlechter, als die Oesfentlichkeit annimmt. . . . Im allge¬ meinen rechnet man bei einer solchen Erkrankung mit dem Ableben des Patienten binnen zwei bis drei Jahren, selbst bei allergrößter Schonung und sorgfältigster Pflege. Als Ursache einer Nieren¬ schrumpfung kommt entweder eine schwere Hals¬ entzündung oder aber übermäßiger Genuß von fchwerverdaulichen Speisen und Alkohol in Frage. Soviel bekannt geworden ist, hat Herr Reichs- außenminister an einer Halsentzündung in den letzten Jahren nicht gelitten." Der „Eisenhammer" schrieb im Mai d. I. unter der Ueberschrist: „Stresemann hat Ge¬ burtstag" in ähnlichem Sinne: „Am Himmelfahrtstage ist unser großer Außenminister 51 Jahre alt geworden. Po¬ litisch und gesundheitlich steht er zwar schon aus dem Aussterbeetat. Wenn wir ihm auch auch l>eute noch nicht gerade einen Nekrolog schreiben wollen — die Aerzte geben ihm zwei Jahre — so möchten wir doch seine Ver¬ dienste der Mitwelt gebührend verkündigen." Der „Völkische Beobachter" bringt Artikel mit Ueberschriften wie: „Polen mit Gustav Stresemann zufrieden* — „Stresemann stärkt die Unterdrücker" — „Das feindliche Ausland hat in Dr. Stresemann den ,Freund' verloren". Die völkische Zeitung „Die Flamme", Her¬ ausgeber Dr. Feder, unterschreibt eine Kari¬ katur Strefemanns: „Stresemann als Schritt¬ macher der Entente" und betitelt einen Leit¬ artikel: „Stresemann bekommt Ohrseigen." Noch Ende September hat der national¬ sozialistische Abgeordnete von Oldenburg namens R o e v e r in einer öffentlichen Ver¬ sammlung in Osnabrück über Stresemann gesagt: „Wenn aber einmal die Stunde kommt — und die kommt totsicher — dann kommt auch Gustav Stresemann vor dem Staatsgerichtshof, nicht zum Schutz seiner Fassade." Der in Ingolstadt erscheinende „Donau¬ bote" scheut sich nicht, in seiner Nummer 228 vom 3. Oktober d. I. folgende Zeilen zu ver¬ öffentlichen: „Deutschlands Außenminister, Gustav Stresemann, Inhaber des Kontos S. Gustav, wurde, wie an den Telegrammtafeln heute früh zu lesen war, vom Schlage getroffen. Stresemann war in den Augen aller Pazi¬ fisten, der Sozialdemokraten und aller Stiesellecker der glorreichste« Außenminister, der es verstanden hat, das ganze deutsche Volk zu versklaven und Deutschland selbst zu einer Kolonie der Siegerstaaten zu machen. Ein Aufatmen geht durch das national den¬ kende deutsche Volk, daß Stresemann nicht mehr ist und daß Gott so viel Erbarmen zeigte, ihn ans seiner sluchwürdigen Tätig¬ keit jäh heranszureißen. Wir als National¬ sozialisten haben nur zu bedauern, daß es uns nicht mehr vergönnt war, ihn, den Volksverschacherer, vor die Schranken eines Staatsgerichtshofes zu schleppen. ♦ . Das Grab hatte sich noch kaum über dem .toten Außenminister geschlossen, als Julius Streicher, der schon wiederholt wegen ver¬ leumderischer Beleidigungen verurteilte Nürn¬ berger Hitlerianer, im Münchener Bürger¬ bräukeller ausführte: „Man darf sich nicht über den frühen Tod Strefemanns wundern, denn bei einem so guten Leben, wie es Stresemann geführt hat, kommt der Tod immer früher. Die Kopfbildung Strese- manns ist der Schlüssel zu seinem Handeln. Das Mongolengesicht hat die Verschlagenheit offen kundgetan. Er wird jetzt als großer Europäer bezeichnet, aber das ist gleichbedeutend mit Ver¬ räter und Werkzeug der Juden. Der Jude ist seit urdenklichen Zeiten geborener Verbrecher. Wer in der Judenrepublik den Nachweis er- - bringt, daß er ein Gauner ist, der kann Minister werden, vielleicht später, wenn einmal der |