XVII. Jahrg. / Kr. 16 Berlin, 21. April 1938 Preis 10 Pfennig ALLGEMEINE ZEITUN6 DES JUDENTUMS Her Motivenbericht zum ungarischen Judengesetz ^.y Der „Gesetzentwurf über die Wahrung des wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichte" war dem ungarischen Abgeordnetenhaus vor den Osterferien ohne Erläuterungen zugegangen. Eine Woche später, am 14. April, wurde der so¬ genannte „M o t i v. e n b e r i c h t" veröffentlicht Wir geben im folgenden seine wesentlichen Ge¬ dankengänge wieder: Zunächst wird hervorgehoben, dass sich die Zahl der ungarischen Juden in den letzten neun¬ zig Jahren verfünffacht habe. Die jüdische Be¬ völkerungsschicht habe innerhalb von drei Gene¬ rationen die führenden Positionen des Wirt¬ schaftslebens besetzt und habe sogar nach dem Vertrag von Trianon als. einzige Bevölkerungs¬ gruppe ihren Lebensstandard weiter erhöht. Auch im Bereich von Kunst, Kultur und Wissen¬ schaft habe der Anteil der Juden ein Mass er¬ reicht, welches, der Regierung die Pflicht auf¬ erlege, 'das gestörte Gleichgewicht wieder her¬ zustellen. In erster Linie müssten für die christliche Jugend Erwerbsmöglichkeiten und für die Söhne der ungarischen Bauern Aufstiegs¬ möglichkeiten geschaffen werden. . Diesem Bericht ist umfangreiches Material des ungarischen Statistikers Dr. Alois K o v ä e s ■ beigegeben, das die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und die territoriale Verteilung deT christlichen und jüdischen Bevölkerung mitein¬ ander vergleicht. Ueber den Rückgang der unga¬ rischen Judenschaft werden .die von uns in der vorigen Nummer bereits wiedergegebenen Zahten genannt und daran die Schlussfolgerung ge¬ knüpft dass das zahlenmässige Schicksal der Juden des Landes besiegelt eei. Ueber den An¬ teil der Juden .an den verschiedenen Berufen werden u. a. diese Zahlen veröffentlicht: - forderte, die Gemeindeaufträge schon jetzt auf jüdische und christliehe Bewerber im Sinne des Regierungsentwurfes zu verteilen. Der Antrag wurde schliesslich mit der Massgabe ange¬ nommen, dass er erst' nach der Zustimmung der Regierungan Kraft treten soll. Das Judengesetz selbst wird am 22. April, vormittags ab 10 Uhr, in den vereinigten Aus¬ schüssen für Volkswirtschaft und Verkehr, für Unterricht und Justiz sowie für Staatsrecht zur Debatte stehen. Das Schacht verbot ist am Abend des 14. April in Kraft getreten; da jedoch Geflügel und Schafe von ihm ausgenommen sind und grössere Quantitäten koscheren Fleisches ein¬ gelagert wurden, ist im Augenblick die Ver¬ sorgung der jüdisch - religiösen Bevölkerung noch sichergestellt. Dass der Regierung an einer tatsächlichen Entgiftung des politischen Lebens gelegen ist, zeigt neuerdings die Verhaftung von 100 Mitgliedern der judenfeindlichen Partei des Majors Szalasi und die Beschlagnahme von Flug¬ blättern seiner Organisation. Die Polizei erliess eine Bekanntmachung, dass jeder, der in Zukunft diese oder ähnliche Handzettel verteile, in Polizei¬ gewahrsam genommen werden würde. Gegen vier Anhänger Szalasis begann vor dem Gerieht die Verhandlung wegen aufwieglerischer Tätigkeit, Wenige Tage danach wurden etwa 100 jüdische Angestellte dreier Budapester Finnen festgenom¬ men, unter der Beschuldigung, als Protest gegen das geplante Gesetz die jüdische Bevölkerung zum Boykott der Vergnügungslokale aufgefordert zu haben. Der Vorstand der Budapester Jüdischen Gemeinde erklärt von diesen Vorgängen keiner¬ lei Kenntnis gehabt und sie auch nicht unterstützt zu haben. Unruhige Feiertage in Palästina Jahr »/„ Jahr V» Rückgang Beruf Handel- und 45.0 11,9 Kreditwesen 1900 58.9 1935 Aerztc . . . 1920 64.5 1930 54,5 10 Verkehrswesen 14.5 1935 7.3 7.2 Journalisten lfl0(l 49.-2 1935 35.3 13.9 Wissenschaftler 19-20 27,3 1930 *2.6 Anwälte . . 1930 49,2 1937 34,9') 14,3 *) Advokaturskandidaten Wenn diese Zahlen, da sie sich auf ver¬ schiedene Stichdaten stützen, auch nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden können, so zeigen sie doch eine unaufhaltsam rückläufige Bewegung. Für das Jahr 1930 werden ausser¬ dem noch folgende Daten gegeben. 1930 Beruf Chemiker . . Ingenieure . . Komponisten Sänger . . . . Schauspieler . 1930 . 43.1 . 30.4 . 28.9 . 27,1 . 24.1 Beruf Malerei....... Bildhauerei . . . - Linter r ieh tswew.n . Parlamentarier . . Staatsdienst . . . . 15,7 8,3 . 6.2 4,6 1," Ein Teil der Presse kommentiert diesen Be¬ richt dahin, dass die vom Judentum stärker be¬ setzten Teile des Wirtschaftslebens keineswegs christlichen Schichten entzogen, sondern viel¬ mehr neugeschaffen worden seien, wodurch auch eine sich ständig vermehrende Zahl von Christen neue Erwerbsmöglichkeiten und neue Arbeitsplätze gefunden habe. Diese Argumente kamen auch im Verwaltungsausschuss der Budapester Stadtverordnetenversammlung zur Sprache, als das Ratsmitglied Petrovacz In dieser Nummer finden unsere Leser u. a.: Die Aufsätze: Wcsnderungsprobiem unter britischem Gesichtspunkt Moritz Kaswari: Der Wolf, Novelle iSchluss) — Max Goldstein: Vom Arbeits¬ recht in USA. — Micha Michalowitz: Jüdische Kundschafter — 1 Fritz Benjamin: Palästina-Literatur — Fritz Goldschmidt: Das Aprilheft der „Morgen" Die Beilagen: Die Wanderung — Wirtschaft der Woche — Palästina-Umschau — Sportblatt — Schachecke Feiertage sind in Palästina immer Zeiten erhöhter Spannung. Ganz be¬ sonders, wenn, wie diesmal, die jüdischen, christlichen und mohammedanischen Feste zusammentreffen, vermehren sich die Ge¬ fahrenpunkte, die bei der gesteigerten Nervosität im ganzen Lande fast mit Be¬ rührungspunkten identisch sind. In diesem Jahre war alles Mögliche zur Verminderung der Reibungsflächen geschehen. Schon seit Wochen hatte man die Suche nach'verdäch¬ tigen' Elementen, besonders in und um Jerusalem,, intensiviert'und viele in Haft genommen. Die jüdischen Quartiere stan¬ den unter strenger Bewachung, als die arabischen Nebi-Musa T Prozessionen, die um die Osterzeit stattfinden, beginnen sollten. Selbst die christlichen Feierlichkeiten am Heiligen Grabe und die Samaritanischen Opfer auf dem Berge Garizim erlitten durch Beschränkungen und polizeiliche Bewachung starke Einbussen. Es schien auch zunächst, als nämlich die erste Nebi- Musa-Prozession, die von Nablus nach Jeru¬ salem ziehen sollte, infolge innerarabischer Streitigkeiten praktisch ausfiel, als ob die. allgemeine Spannung sich vermindere und die allen drei Religionen heiligen Tage störungsfrei verlaufen sollten. Leider aber hat sich diese Annahme als trügerisch erwiesen. Schon die üblichen kleinen Attacken, die am Gründonnerstag wiederum das Land erschütterten, zeigten an, dass man mit einer Beruhigung der terroristischen Tätigkeit .nicht zu rechnen hätte. Araber überfielen und töteten Araber, die P i p e - L i n e wurde wieder einmal in Brand gesteckt, die jüdische Siedlung M i g d a 1 bei Tiberias wurde be¬ schossen, und eines der in den letzten Wochen gehäuften Eisenbahnattentate wurde in der Nähe von Tulkerem wiederholt. Aber das war nur der Auftakt. Am ersten Pessachf eiertag kam es im Ge¬ biet zwischen Nablus und Tulkerem, einem der unruhigsten des Landes, zu einem regu¬ lären Gefecht zwischen englischen Truppen und arabischen Banden, an dem auch Luft¬ streitkräfte und Panzerwagen teilnahmen. Zweiundzwanzig Araber wurden getötet- ein britischer Soldat leicht verwundet Die sich an dieses Gefecht anschliessende Säuberungsaktion in dem ganzen betroffe¬ nen Gebiet wurde während der folgenden Tage" durchgeführt. An dem gleichen blutigen Sonnabend, an dem diese militärische Auseinander¬ setzung stattfand, wurde ein Auto mit sechs jüdischen Passagieren, das von der am Tage vorher gegründeten. Rexinger Siedlung Shave.i Zion nach Chanuta unter¬ wegs war, von Arabern überfallen. Drei Passagiere wurden auf der Stelle g'e- tötet. Es waren dies der 19jährige Jo¬ seph Rotblatt aus Kirjat Chaim. der 23jährige Abraham Daniel! aus Kirjat Motzkin und der 25jährige Kurt Bengaon aus Naharia. Den anderen Irisassen des Autos gelang es, nach Chanuta zu entkom¬ men, wo sie Alarm gaben. Sofort brächen, jüdische Hilfspolizisten auf, um die Araber zu verfolgen. Es-gelang" ihnen, sie zu stellen, wobei einer der Hilfspolizisten, der 24jährige S e e w A n a f - so schwer ver¬ wundet wurde, dass er später im Hadassa- Hospital in Haifa starb. Er war vor zwei Jahren aus Wien ins Land gekommen. Er hinterlässt Frau und Kind. Auch sonst kam es noch zu Bombenwür¬ fen in Haifa und Jerusalem, bei denen mehrere Juden verwundet wurden. Ein Araber wurde in der Haschomerstrasse in Haifa tödlich-verletzt. .. Eine traurige Chronik meldet, dass die Unruhen, deren Beginn mit den Zwischen¬ fällen an der Jaffa—-Tel-Aviver Grenze sich in diesen Tagen zum zweitenmal gejährt hat, im ganzen 142 jüdische Todesopfer ge¬ fordert haben. Die Zahl der jüdischen Ver¬ wundeten beträgt über 500. Als der neue High Commissioner Sir Harold MacMichael die Wiederherstellung von Ruhe und Ord¬ nung in vielen nachdrücklichen Erklärun¬ gen als seine vordringliche Pflicht bezeich¬ nete, da hoffte man, dass der neue Mann zu der guten Gesinnung seines Vorgängers noch ein Mehr an Tatkraft und kolonisato¬ rischer Erfahrung mitbringe. Die ersten Wochen seiner Amtszeit haben leider die Hoffnungen, die man an seine Arbeitsauf¬ nahme knüpfte, nicht erfüllt Aber so wenig man sich damit abfinden will, au ein „Unmöglich" zu glauben, wo ein so überlegener Kräfteeinsatz zur Verfügung steht, so wenig ist es an der Zeit, die Hoff¬ nung und die mit ihr verbundene Haltung der Disziplin aufzugeben. Es darf freilich auch von englischer Seite nicht übersehen werden, dass Tage wie die, die das Land soeben wieder durchlebt hat diese Haltung auf eine schwere Probe stellen. Palästinensische Staatsangehörigkeit? . Im Unterhaus in London ist am 13. April eine Gesetzesvorlage eingebracht .worden, die auch nicht in Palästina lebenden Juden gegen Zahlung einer Gebühr an die Mandatsregierung das palästinische Bürgerrecht gewähren soll, da¬ mit sie dadurch zu „unter dem Mandat geschützten Personen" würden. Das Naturalisationsrecht in Palästina würde so einen extraterritorialen Cha¬ rakter erlangen. Bei der Abstimmung wurden 144 Stimmen für die, Vorlage, und 144 Stimmen dagegen abgegeben, so dass die Stimme des Speakers, gemäss einem Präzedenzfall aus dem •fahre 1796, den Ausschlag zugunsten der Vor¬ lage geben musste. Hierdurch ist die Möglichkeit gegeben, die Vorlage noch ein zweitesmal im Unterhaus zu besprechen. Gesetzeskraft hat sio natursemäss noch nicht erlangt. MZeMmd®rs mewes Fremdenrecht Immer wieder haben sich die Augen der Auswanderungshungrigen auf jenes Land an der Westküste Südamerikas gerichtet, das sich unter dem Aequator wie ein Keil zwischen Kolumbien und Peru nach Bra¬ silien schiebt und in dessen Mitte der Chim- borasso 6310 Meter hoch aufragt. 715 000 (Deutschland mit Oesterreich 551000) Quadratkilometer umfasst dieser Staat, der in drei streng voneinander begrenzte Land¬ schaften zerfällt. Im Westen die schmale Küstenebene, in der Mitte die Doppelkette der Anden, im Osten die Niederungen des Amazonas mit ihren tropischen Urwäldern. Etwa drei Millionen Menschen leben im Land. Von ihnen sind 48 Prozent Indianer, 30 Prozent Mischlinge, 14 Prozent Neger und nur 8 Prozent Weisse. Unter ihnen ca. .1000 Juden, von denen etwa 350 in der einzigen Hafenstadt Guayaquil und 450 in der 450 Kilometer entfernt in den Anden auf 3000 Meter Höhe -liegenden Hauptstadt Quito leben. Ein Drittel der Juden stammt aus Deutschland, zwei Drittel aus osteuropä¬ ischen Ländern. Ueber die* Möglichkeiten, die das Land dem Einwanderer tatsächlich bietet,' haben wir regelmässig berichtet Deswegen ist es nicht unwichtig, das neue Fremdengesetz zu kennen, welches soeben amtlich • publiziert wurde und über dessen wesentlichen Inhalt unser Bericht¬ erstatter uns folgendes schreibt: K. J. R. BUENOS AIRES, 14. April. (Luftpost) Die gesetzgebenden Behörden von Ecuador haben-vor einigen Wochen ein Gesetz über das Fremdenwesen, die Ausweisung und die Ein¬ bürgerung verabschiedet, das die gesamte Materie des Ausländerrechtes regelt und auch Bestimmungen über die Einwanderung enthält. Das Gesetz bildet den Abschluss der Aus¬ einandersetzungen, die zu Anfang des Jahres in Ecuador über die Einwanderungsfrage' geführt wurden und über deren Rückwirkung auf die eingewanderte Judenheit wir in der C-V.¬ Zeitung (Nr. 28 vom 24. Februar- 1938) ein¬ gehend berichtet haben. Das Gesetz enthält keine Ausnahmebestimmtingen für Juden, so . dass in den Verhältnissen der bereits im Lande befindlichen und der ein¬ wanderungswilligen jüdischen Menschen nun¬ mehr eine Klärung eintreten dürfte, falls die gesetzlichen Bestimmungen zur Grundlage der Verwaltungspraxis gemacht werden. Das Gesetz geht davon aus, dass das Land für alle Ausländer offenstehe, die in seinem Territorium wohnen oder sich niederlassen wollen, sofern sie die gesetzlichen Erfordernisse erfüllen. Ecuador begünstigt ausdrücklich die Einwanderung von Individuen und Familien, die Landwirtschaft betreiben, neue Industrien ein¬ führen oder bestehende verbessern wollen oder die auf künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet zu unterrichten beabsichtigen,, sofern es sich um Elemente handelt, die dem Fortschritt des Landes dienen. Darüber hinaus sind Aus¬ nahmebestimmungen für alle menschlichen Wesen, die sich in drohender Lebensgefahr be¬ finden, festgelegt; und auch politische Flücht¬ linge geniessen gewisse Sonderbestimmungen. Die Juden werden in dem Gesetzes¬ text nicht erwähnt, Einwanderungs¬ beschränkungen bestehen lediglich für Chinesen, •und ein Einwanderungsverbot für Zigeuner aller Nationalitäten. Die Niederlassung Fremder im Lande ist von einer Genehmigung der Oficina Central de Inmigracion y de Extranjeria ab¬ hängig, ausserdem müssen die gesetzlichen. Erfordernisse beider Visierung des Passes dem zuständigen Konsulat nachgewiesen werden. Zur Aufenthaltserlaubnis verlangt das Gesetz neben den fast in allen Ländern üblichen Papieren den Nachweis eines Ver¬ mögens von wenigstens 1000 amerikanischen Dollars, die landwirtschaftlich oder industriell in Ecuador investiert werden müssten: Ehe¬ frauen und minderjährige Kinder von Ein¬ wanderern oder eingewanderten Personen. |