XXXm. Jahrgang. M 101 Der Israelit. Ein Aentrak-Hrgan für das orthodoxe Iudenthum. Begründet von Dr, Lehmann in Mainz. Donner ft ag, den 22. Dezember 5653 (1892). Da mit dem 1. Januar 1893 ein neues Quartal beginnt, so erlauben wir uns, die geehrten Abonnenten darauf aufmerksam zu machen, daß namentlich bet der Post das Abonnement frühzeitig erneuert werden muß, damit die Versendung keine Unterbrechung erleide. In der Post¬ zeitungsliste pro 1893 eingetragen unter Nr. 3224. AM" Die nächste Nummer, eine Doppelnummer, erscheint Mittwoch, den 28. Dezember. Leitender Artikel. Gin Iriedenswort. Die Halbmonatszeitschrift „Der neue Kurs", deren Richtung sich in ihrem Namen ausspricht, veröffentlicht in ihrer jüngsten Nummer einen Ar¬ tikel, welcher „Gegen den Strom, ein Friedenswort an Christen und Juden" betitelt ist. Von geschätz¬ ter Seite (jüdischer sowohl wie nichtjüdischer) wer¬ den wir um Wiedergabe dieses Aufsatzes gebeten. Wir kommen diesem Wunsche gern nach, uns ein Eingehen auf die Einzelheiten des Artikels für spä¬ ter vorbehaltend. Derselbe lautet: Zu den mancherlei Jrrthümern, denen man sich in neuerer Zeit, mehr aus Bequemlichkeit und aus Abneigung gegen gründliche Untersuchung, hin- gegeben hatte, gehört die Annahme, der Antisemi¬ tismus sei in starkem Rückgänge begriffen. In diesem Jrrthum befangen, spottete man mehr über die vorgeschlagene — inzwischen perfekt gewordene — Aenderung des konservativen Programms in antisemitischer Richtung, als man darüber nachdachte. Das Ergebniß der Arnswalder Retchstagsersatzwahl und der Verlauf des konservativen Parteitages ha¬ ben gezeigt, daß der Einberufer der Versammlung Deutscher Studenten in Berlin vom 18. November nicht so Unrecht hatte, als er sich dahin aussprach: der Verein Deutscher Studenten vertrete heute ge¬ radezu noch eine milde Richtung des Antisemitismus. Es liegt nahe, zwischen der Entwickelung der antisemitischen und der der sozialdemokratischen Be¬ wegung eine Parallele zu ziehen. Analogien sind unzweifelhaft vorhanden. Ohne näher hierauf ein¬ zugehen, mag nur die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Haltung des sogenannten gemäßigten Theiles der Sozialdemokratie, die alle extremen Allüren in Reden uud Thaten vermeidet, von der berechnenden Absicht diktirt ist, es möchten die Ur¬ heber zukünftiger Wirren aus einem andern, schein¬ bar abgesonderten Lager erstehen. Es kann zweifel¬ haft erscheinen, ob die Anarchisten in unserem öffent¬ lichen Leben der gefährlichere Faktor geworden sind, seitdem die offizielle Sozialdemokratie gemäßigter auftritt; es unterliegt aber nicht dem geringsten Zweifel, daß, wenn es dem Radau-Antisemitismus gestattet bleibt, mit seinen Schlagworten von der „Verjudung der deutschen Nation" die Leidenschaften der Massen ferner aufzuregen, die rohe Ausartung der Bewegung um so bedrohlicher wird, je weiter der latente Antisemitismus verbreitet ist, und je mehr die Annahme, das Judenthum sei mit den extremen Parteien unlöslich verschlungen, auch in klareren Köpfen sich festgesetzt hat. Wie die sozialdemokra¬ tische, so hat auch die antisemitische Bewegung ihre Ausdehnung zum großen Theile dem Umstande zu danken, daß man versäumt hat bei Zeiten einen Unterschied zwischen berechtigten und unberechtigten Bestrebungen zu machen. Es ist hohe Zeit, dies nachzuholen, nachdem unverkennbar geworden, daß der Verbreitungsbezirk der antisemitischen Gesinnung weit über die Grenzen der konservativen Partei hinausreicht, und daß diese Gesinnung weder weg- disputirt noch durch bloße Mißachtung überwunden werden kann, um so mehr, als die Gegensätzlichkeit, in der große Kreise der christlichen und jüdischen Bevölkerung zu einander verharren, auf die Dauer zu unerträglichen Schädigungen für Staat und Ge¬ sellschaft führen muß. Es wird dem Judenthum zum Vorwurf ge¬ macht, es identificire sich mit der in einzelnen, kei- 1 neswegs ausschließlich jüdischen Kreisen herrschenden |