GERMANIA JUDAICA Kölner Bibliothek XXXV. Jahrgang. ra OMCbioWe d« deuttoben JodMten« ^ 1 & 2. Der Kraclit. ~ W» Aenlrat-Hrgan für das orthodore v«tzrL^et von Dr. Lehr»«« t» Mittwoch, den 3. Januar 5654 (1894). Leitender Artikel. Wückbtick. Mainz, 3t. Dezember. Wenn wir vor Beginn eines neuen Jahrgangs noch einmal einen Blick auf den abgclaufenen wer¬ fen, um das Herrliche und Trübe zu registriren, welches er dem Judenthum und der Judenheit ge¬ bracht hat, so trifft das Auge zuerst auf unser äußeres Geschick in den verschiedenen Ländern der Erde. Es wäre verhängnißvolle Selbsttäuschung wollten wir uns über den ernsten Charakter dersel¬ ben einer Illusion hingeben. Wir beginnen unsere Umschau mit dem grüß« ten Reiche, dem russischen, das in seinem un¬ geheuren Umfange die Mehrzahl sämmtlicher gegen¬ wärtig lebender Juden enthält. Die trostlose Lage unserer dortigen Glaubensgenossen ist weltbekannt. Durch verschärfte Ausnahmsgesetze hat dieselbe im letzten Jahre noch eine Steigerung erfahren, welche die unglücklichen Opfer derselben nöthigt, den Wanderstab zu ergreifen und anderswo ein Heim zu suchen. Es gibt heute kein Land der Welt, in welchem nicht russisch-jüdische Flüchtlinge sich nieder¬ gelassen haben. Der große Auswandererstrom, der sich besonders dem freien, gastlichen Amerika zugewendet hat, konnte aber selbst dort nicht ver¬ fehlen eine Reaktion wachzurufen. Der Fleiß, die Anspruchslosigkeit, Ausdauer und geistige Begabung der Flüchtlinge nimmt überall den Kampf ums Dasein mit augenscheinlichem Erfolg gegen alle Mitbewerber auf. Dadurch entsteht Mißgunst und Neid, welche selbst in Amerika zn betrübenden juden- fetndlichen Ausschreitungen führten. Wo diese Anlässe wegfallen, fehlt es in den verschiedenen Staaten nicht an anderen, welche oer Abneigung gegen die Juden als Vorwand dienen. Eine einzige erfreuliche Ausnahme bildetUngarn. Dasselbe Ungarn, in welchem noch vor einem Jahr¬ zehnt die Wogen des Judenhasses so nngewöhnltch hoch gingen, ist heute im Begriff seine emancipirten jüdischen Bürger zu recipiren, d. h. jede noch be¬ stehende Verschiedenheit zwischen jüdischen und nicht- jüdischen ungarischen Bürgern aufzuheben. Während in den meisten anderen Staaten die volle Gleichbe¬ rechtigung auf dem Papiere steht, in der Wirklich¬ keit aber schmerzlich vermißt wird, ist sie in Ungarn praktisch durchgeführt, während sie formell in der Verfassung noch in einigen unwesentlichen Punkten nur ungenügend formulirt ist. Diese letzten Un¬ gleichheiten in der Behandlung jüdischer und nicht¬ jüdischer Bürger sollen durch die sogen. Receptton beseitigt werden. Zur Zeit liegt der betr. Gesetz¬ entwurf den parlamentarischen Körperschaften vor und ist dessen Annahme so gut wie gesichert. Was die judenfeindlichen Bestrebungen des abgelaufenen Jahres besonders charakterisirt, ist, daß sie sich nicht mehr auf eine Verkümmerung der sozialen und politischen Rechte der Juden beschrän¬ ken, sondern in das interne jüdisch-religiöse Leben eingreifen und dieses zu erschweren suchen. Es macht sich dies besonders in einer maßlosen Agita¬ tion gegen das Schächten geltend. In Sach¬ sen ist das Schächten seit 15 Monaten thatsächlich verboten und in der Schweiz hat eine Volksab¬ stimmung am 20. August v. I. ebenfalls ein Schächtverbot proklamirt, das voraussichtlich in den nächsten Wochen des neuen Jahres in Kraft treten wird. Selbst in England hat ein gericht¬ liches Erkenntniß das Schächten als eine strafwür¬ dige Thierquälerei erklärt, auch in Preußen wur¬ den seitens einiger Regierungsbezirke ein Schächt¬ verbot erlassen, dann aber auf ministerielle Weisung bis auf weiteres wieder zurückgezogen. Neuerdings haben auch im deutschen Reichstag die'Antisemiten den Antrag auf ein Schächtverbot gestellt. — In der judenfeindlichen Presse werden inzwischen schon Stimmen laut, welchen ein Schächtverbot noch nicht genügt, sie fordern nichts weniger als ein Verbot der Mtla und des Sabbat! — |