vergessen haben, dass sie nicht, wie ihre Vor¬ fahren es ehemals in Palästina gethan, vorzugs¬ weise Ackerban und Viehzucht treiben. Grau¬ samer Hohn ist es, wenn gerade Diejenigen, welche die Schergen preisen, die im Mittelalter dem wehrlosen Juden den Grundbesitz raubten and dieselbe in enge Ghetti sperrten, behaupten, dass die Scheu vor körperlicher Anstrengung die Juden von Ackerbau und Handwerk fern halte. In beiden Berufszweigen waren die Ju¬ den, die mit den Deutschen in die den Slaven entrissenen Gebiete gekommen waren, vielfach thätig, bis der Beginn der Kreuzzüge den Fa¬ natismus entflammte, die Juden ihres Grundbe¬ sitzes beraubt, vom Handwerk ausgeschlossen und auf das Geldgeschäft angewiesen wurden, welches man ihnen deshalb aufdrängte, weil die Kirche auf Grund des kanonischen Gesetzes ihren Bekennern das Zinsnehmen untersagte. „Die ganze Ausbildung des gewerblichen Lebens“, schreibt Stobbe, „schloss den Juden von je¬ der Theilnahme am Handwerk aus; es blieb ihm keine andere Wahl, als vom Schacher und Wucher za leben. Der mittelalterliche Staat Hess ihm keine anderen Erwerbsquellen.“ Viele Jahrhun¬ derte hindurch auf den Handel beschränkt, ha¬ ben die deutschen Juden die Fähigkeit erworben, auf diesem Gebiete Bedeutendes zu leisten und Erfolge zu erzielen, welche zumeist nicht nur ihnen, sondern der Gesammtheit zu Gute gekom¬ men sind. Es ist noch kein halbes Jahrhundert ver¬ flossen, seitdem den deutschen Jaden andere Be- rnfszweige erschlossen worden sind. Ein solcher Zeitraum konnte nicht genügen, sie vollständig von dem Berufszweige abzuziehen, auf den sie durch langjährige Gewohnheit zunächst hinge¬ wiesen wurden, wie er auch nicht genügt hat, die Vorurtheile zu beseitigen, welche sie in den ihnen so spät erschlossenen Berufskreisen zu be¬ kämpfen haben. Bis znm Jahre 1848 verboten die Znuftgesetze den christlichen Meistern, einen Juden in die Lehre zu nehmen; aber auch heute ist es schwer, einen christlichen Meister za fin¬ den, der einen jüdischen Knaben in die Lehre nimmt und ihn gegen Beschimpfungen seitens der Gehilfen and Mitlehrlinge hinreichend schützt. Allerdings Hess sich voraussehen, dass sich lang¬ jährig eingewurzelte Vorurtheile weder durch die Gesetzgebung, noch durch die Fortschritte der allgemeinen Volksbildung im Laufe von wenigen Jahrzehnten völlig verbannen lassen würden. Trotzdem hat die Heftigkeit der in der Neuzeit stattgehabten rückläufigen Bewegung Überrascht ; sie ist unverkennbar dadurch ge¬ fördert worden, dass berufsmässige Hetzer die von einzelnen Jaden seit der gewonnenen Frei¬ heit auf den Gebieten der Wissenschaft und Kunst, des Handels und der Gewerbe errungenen Erfolge wesentlich übertrieben, und in weiten Kreisen eine völlig unberechtigte Furcht vor den neuen Wettbewerbern wachgerufen haben. Die Judenfrage ist keine Religions-, keine Rassen¬ frage, sondern eine Frage der wirtschaftlichen Konkurrenz. Der vermeintliche Reichthum der Juden bildet die Hauptursache aller Anfeindungen, heut zu Tage, wie zu jener Zeit des Mittelalters, von welcher Ignaz Dö Hing er sagt, dass da¬ mals das Gold „nicht nur der Schutzengel, son¬ dern auch der Würgengel der Juden“ gewesen sei. Ein ähnliches Schreckgespenst wie der jü¬ dische Reichthum ist auch die angebliche interna¬ tionale Solidarität der Juden, während in Wirk¬ lichkeit die letzteren kein anderes Band um¬ schlingt, als das des gemeinsamen schlichten Glaubens an den einzigeinen Gott. Bestände unter den deutschen Juden eine Interessenge¬ meinschaft, wie deren jetzt so viele in Deutsch¬ land vorhanden sind, so würde es vielleicht viel besser um ihre Sache stehen, und die halbe Mil¬ lion deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens möglicher Weise eine Phalanx bilden, welche ihren Angreifern Respekt einflösste. Derartiges ist aber eben so wenig vorhanden, wie eine durch¬ schnittliche ansehnliche Wohlstandsziffer. In ein¬ zelnen deutschen Gressstädten ist die Wohlstands¬ ziffer der Juden nur deshalb eine sehr günstige, weil die Wohlhabenden die kleinen Städte und die Dörfer verlassen, wo sie von dem wirt¬ schaftlichen and gesellschaftlichen Boykott weit schärfer betroffen werden. Dass die Juden in Deutschland in der Haupt¬ sache ohne ihre Schuld an der Bodenkultur und dem Handwerk nur vereinzelt theilnehmen, dass sie trotz der in dem Reichsgesetz vom 3 . Juli 1869 klar und deutlich ausgesprochenen völligen Gleichstellung heute anf dem fast unkontrolir- baren Verwaltungswege von zahlreichen anderen Berufszweigen ganz oder doch mit geringen Aus¬ nahmen ausgeschlossen werden, gereicht ihnen zu besonderem Unheil. Die, auch zahlreichen christlichen Eltern bange Sorgen verursachende, Berufswahl der Knaben gestaltet sich durch die enge Begrenzung der erreichbaren Erwerbszweige für jüdische Familien besonders schwierig. Liegt bei der raschen Frequenz-Zunahme der höheren Lehranstalten die Gefahr eines „Proletariats der Halbgebildeten“ im Allgemeinen nahe genug, so scheint es besonders bedenklich, jüdische Kna¬ ben studiren zu lassen, welche nur halbwegs befähigt sind, oder in Folge finanzieller Verhält¬ nisse geringe Aussichten haben, ihre Studien vollenden zu können. (Fortsetzung folgt.) Pruek 4er Joh. WjLrtk’sehen Hoftachdrockerei Actien-Geseilschaft, Mainz. |