3 Prof. M. Philippson: Rückblick auf das Jahr 1902. 4 zusammen finden und dort jüdische Ueberlieferung, jüdische Aufgaben, jüdisches Wesen und jüdische Gesinnung in bester Auffassung des Wortes pflegen und befördern. Es giebt glücklicherweise, trotz der Furchtsamkeit unserer „Führer", jetzt viele Tausende von Israeliten, die sich nicht in scheuer Ghettofurcht ducken und bei den Andersgläubigen um Zulassung winseln oder dem Antisemitismus mit thörichten und feigen Selbstbeschuldigungen schmeicheln, die sich vielmehr offen um ihr viel¬ tausendjähriges- Banner schaaren und stolz für den Löwen Judas eintreten. Fluctuat nec mergitur steht auf dem Wappen der Stadt Paris — „die Fluten schütteln uns, aber versenken uns nicht" — und das ist auch der Wahrspruch und das Geschick des Judentums seit ältesten Zeiten. Oft von Sturm und Wellen gepeitscht, mit dem Untergange bedroht, entfaltet sein Schiff noch immer die weithin schim¬ mernden Segel, und gerade, wenn man es von den Wogen verschlungen wähnt, taucht es kühn und wetterfest wieder aus ihnen auf. Es muss eine gewaltige innere Festigkeit und eine erhabene mensch¬ heitliche Bedeutung besitzen, um so allein und ver¬ lassen seit Jahrhunderten auf dem bewegten Ozean der Weltgeschichte seinen triumphierenden Lauf zu bewahren. Die Juden unseres deutschen Vaterlandes haben längst Formen gesucht und gefunden, um ihre Zu¬ sammengehörigkeit, ihre kultuelle und religiöse Weiterentwickelung zu sichern. Der „Deutsch¬ israelitische Gemeindebund" mit seinen systematisch ausgebildeten Landes-, Provinzial- und Bezirksver¬ bänden fördert Synagoge und Religionsunterricht in den schwächeren Gemeinden, schafft und erhält In¬ stitutionen, die Moral, Glauben, redliche Arbeit, Sicherung und Hebung des Lehrerstandes, innere Ge¬ meinschaft unter uns - allen begünstigen. Ein Ge¬ meinde- und Verbandstag, den er im Februar dieses Jahres einberief, war von den meisten grossen und mittleren, sowie zahlreichen kleinen Gemeinden aus allen Teilen des Reiches beschickt und zeigte Alle — Orthodoxe und Liberale, Männer des Südens und des Nordens — einig im gemeinsamen Streben für unsere religiösen und sittlichen Interessen. Fragen von tief einschneidender Bedeutung für. unser ge¬ samtes Gemeindeleben wurden dort erörtert und der Lösung zugeführt. Den Gemeindebund ergänzt, wie schon erwähnt, für die politische und recht¬ liche Aktion der „Centraiverein Deutscher Staats¬ bürger jüdischen Glaubens". Die Bne-Brith-Logen pflegen Geselligkeit, Wohlthun und allgemeine Bil¬ dung unter den Juden und unterstützen mit hoch¬ herzigem Opfersinn alle Bestrebungen, die solche Zwecke zu fördern und zu verwirklichen imstande sind. Die „Vereine für jüdische Geschichte und Litteratur", die sich mit erfreulicher Schnelligkeit über alle Gaue Deutschlands ausdehnen, tragen die Kenntnis unserer ruhmvollen Vergangenheit und unseres reichen und edlen Schrifttums in weiteste Kreise, die diesen Erscheinungen bisher ohne Wissen und selbst ohne Teilnahme gegenüber standen. Die jüdischen Studentenvereine fassen die geistige Elite unserer männlichen Jugend zusammen und nähren in ihr das stolze Bewusstsein, dem ältesten Stamme und der erhabensten Religionsgemeinschaft der Welt anzugehören; sie treten der engherzigen Ausschliess¬ lichkeit speziell christlicher Studentenverbindungen offen entgegen und wissen deren Einfluss auf das gesamte akademische Wesen zu bekämpfen. Ein frisches, frohes, zukunftsreiches Leben geht durch den uralten Stamm, den äussere und innere Gegner schon für vermorscht und abge¬ storben ausgeben. Stolz streckt er seine Zweige aus, die sich mit vollem Blätterschmuck bedecken. Nein, diesen Baum werdet Ihr noch lange nicht ertöten, Ihr Hasser, Neider und Indifferenten, denen sein Dasein zur Last fällt! Aber es bleibt in seinen Institutionen noch eine tiefe und schmerzliche Lücke auszufüllen. Als natürliche aber giftige Frucht ist aus dem Gefühls-Antisemitismus der wissenschaftliche Anti¬ semitismus erwachsen. Teils aus krankhaft über¬ reiztem Nationalitäts empfinden, teils aus Furcht vor jüdischem Wettbewerb in Gelehrsamkeit und Litteratur suchen sowohl Universitätsprofessoren, wie unzünftige Schriftsteller, wirkliche und nur angebliche Gelehrte das jüdische Volkstum als ein minderwertiges und für die Kulturarbeit unfähiges oder gar schädliches zu erweisen. Sogenannte „liberale" christliche Theologen, die nach Ab¬ werfung aller ihrer Kirche eigentümlichen Dogmatik, thatsächlich auf dem Glaubens- und Sittenstandpunkt des Judentums angelangt sind, wollen oder können diese Rückkehr zu der Mutterreligion nicht einge¬ stehen. Deshalb erfinden sie ein nie dagewesenes Zerrbild des Judentums, dem sie ein gleichfalls nie dagewesenes, selbstgemachtes, stylisiertes und idealisiertes Christentum rühmend entgegenstellen. Aber unter diesen Schriftstellern, Philosophen, Historikern, Theologen sind Männer von grosser Bedeutung, von ausgedehntem und gründlichem Wissen. Sie besitzen eine Fülle glänzender Ge¬ danken, eine seltene Kraft und Schönheit des Aus¬ drucks. Ihr Name ist hoch angesehen in allen |