OsT^ggesT: ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT v FÜR MODERNES JUDENTUM. Herausgegeben unter Mitwirkung von Künstlern, Gelehrten und von LEO WINZ. Schriftstellern Bezugs- und Insertions-Bedingungen auf der letzten Textseite. Alle Rechte vorbehalten. Heft 5 Mai 1903 III. Jahrg. BIBEL UND BABEL. (Zweiter Vortrag.) Von Prof. Dr. Julius Oppert (Paris). „Und es trat zu ihnen der Schriftgelehrten einer, der ihnen zugehört hatte, wie sie sich mit ein¬ ander befragten, und sah, dass er ihnen fein ge¬ antwortet hatte, und fragte ihn: Welches ist das vornehmste Gebot vor allen? Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste Gebot von allen Geboten ist das: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott. Und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe und von allen deinen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst." Es ist kein anderes grösseres Gebot denn dieses." Auch wir können ohne Weiteres mit einem Citate beginnen, welches sicherlich bedeutsamer ist als das 63. Capitel des zweiten Jesaias. Das Evan¬ gelium des heiligen Marcus (12, 28 31) zeigt, dass sich auch andere Leute in den Geist des alten Testamentes vertieften und ganz andere Sachen fanden, als den Wuthausbruch eines Be¬ duinenhäuptlings. Abraham, Jacob, Moses, David, alles Beduinenhäuptlinge! Und man glaubt etwas sehr Neues und sehr Wahres gesagt zu haben. Die Leute haben nie einen Beduinenhäuptling gesehen, sonst würden sie solche Verläumdungen nicht aus- stossen. Tapfer sind die Leute, aber nicht „blut¬ triefend", und der unbedachtsame Autor hätte doch im Jehova des 63. Capitels des Jesaias viel eher die christlich-germanische Roheit eines genialen Bar¬ baren entdecken sollen, der an einem Tage 4500 Sachsen hinschlachtete. Doch davon später, und mit Babel und Bibel hat es ja wenig zu tun. In dieser zweiten Vorlesung bemerken wir verschiedene Widersprüche mit der ersten. Hier erglänzt noch die Bibel in Babel, sich sonnend in dem rosigen Lichte der babylonischen Keilschriften, und Herr Delitzsch ist gütig genug, ihr noch einige civilisatorische Bedeutung einzuräumen. Freilich, bis zum Februar 1902 war sie moralisch tot, und nur das Gesicht des neuen Ezechiel hat diese Ge¬ beine wieder auferstehen lassen. Alles bekam Leben und Körper; erst jetzt verstehen wir recht den Geist des alten Testamentes zu erfassen. Aber im alten Testamente ist doch noch etwas Geist, der indessen in dem Zwischenraum, der zwischen dem ersten und dem zweiten Vortrage verflossen, gänzlich verduftet zu sein scheint. In der zweiten Vorlesung ändert sich nun alles. Man hat von einem oder mehreren Gelehrten gesagt: „Der liebe Gott weiss Alles; der Herr weiss aber Alles noch besser, als der liebe Gott". So ist denn auch hier: „In der Bibel ist Manches gut, in Babel ist aber alles noch viel besser, als in der Bibel." So geht es mit den Gesetzen des Königs Hammurabi, die natürlich viel besser und mensch- |