551 552 SO SEHE ICH IHN . . . Von Dr. Isidor Eliaschoff {Warschau). Nachdruck verboten. Den ganzen Herzl spiegelte seine Erscheinung wieder. Mit seinem Tode verschwindet eine der herrlichsten Gestalten, die wir miterlebten. Glück¬ lich mögen sich alle die preisen, die diese Schön¬ heit hatten kosten dürfen, und deren Erinnerungs¬ vermögen den Jahren trotzt, deren Einbildungskraft auch das Plastische, Farbige hervorzuzaubern vermag. Wie in jeder personifizierten ästhetischen Kraft lag das Organisatorische streng in seinem Wesen. Nicht die Macht und die Neuheit seines Gedankens hat uns geeinigt, sondern der unbewusste Rhythmus seiner schönen Seele. Der Ton einer Violine bringt in ordnungslos zerstreute Sandkörnchen eine reizvolle Symmetrie hinein. Das Herzl-Phänomen hat das Judentum inter nationes national gemacht. Es lag etwas Faszinierendes in diesem Mann mit den Zügen eines monumentalen Assyriers. Er besass jenes geheimnisvolle Etwas, das einem Lionardo-Bild, einer Michel-Angelo-Statue eigen ist. Man nennt es Leben. Besser wäre es noch, flutendes Leben zu sagen. Auch wir be¬ sitzen es, ähnlich dem winzigsten Meertierchen; jedoch trag und blass in der Erscheinung, ohne Rhythmus, farbenarm. Bei Herzl war es anders, was er war, war er voll und ganz in der Erscheinung. Es lag ein souveräner Zug in jeder seiner Bewegungen. Die Sicherheit seines Auftretens schloss jeden Widerstand aus. Wir waren vielleicht manchmal die Gescheiteren; er aber stets der Schönere. Was wir an ihm bewunderten, war die totale Voraussetzungslosigkeit in jeder Aeusserung seines Wesens. Wie ein Tröpfchen primären Lebens wusste er nichts von Vorgänger- und Epigonentum. Seine Seele rechnete nicht mit den präexistierenden Hemmungen; wie ein neuer Adam, der aus dem Nichts kam, wie der ge¬ borene Vonvärtsblickende hatte er den stolzen Glauben, dass die Dinge nur von vornher herannahen dürften .... Diese Voraussetzunos- losigkeit, diese gänzliche Verkennung aller Hemmungen deuteten wir manchmal als Be¬ schränktheit, als Regenten-Naivität. Wir besassen aber nie den rechten Willen, diesem herrlichen Sabbatkind Steine in den Weg zu legen. Kann man denn einer Apostelgestalt ernstlich zürnen, dessen Züge selbstbewusst-naiv verkünden: mit mir hat die Schöpfung begonnen? Wir waren vielleicht manchmal die Gescheiteren, er war aber stets der Schönere. Herzls Antlitz sagte in tausend Variationen: mit mir hat die Schöpfung begonnen. Und das internationale Judentum, das nur in der Gestalt amorpher individueller Existenzen mit einem schwankenden sozialen Empfinden fortvegetierte, hat abermals eine alte Bibelstimmung erlebt, die mit den sechs Schöpfungstagen beginnt. Das jüdische soziale Empfinden, zerrieben infolge systematischer Verkennung und Geringschätzung, hat dank Herzls in dem Kongress-Zionismus, der „das Judentum unterwegs" symbolisieren soll, einen kräftigen Stützpunkt bekommen. Schemenhafte, innerlich unsichere Gestalten umgaben die Kongress-Tribüne. Es fehlte noch der konkrete Jude. Und er kam in der Gestalt von Theodor Herzl. Die Festigung unseres sozialen Empfindens wäre nur halb ge¬ schehen, stände nicht ein Herzl an der Spitze des Kongresses, dessen ganzes Wesen auch mit schweigenden Lippen von innerer Sicherheit, von Selbstvertrauen, Vorwärtsstreben, hoher Selbstachtung und vollkommener Souveränität des Menschen, als einzigen Schöpfers seines Schicksals sprach. Mit dem Tode Herzls haben wir den einzigen konkreten Juden verloren; das lebende Symbol unserer ehemaligen bodentesten Vergangenheit, unserer schwankenden, weit abliegenden Zukunft. Wir haben ein herrliches lebendiges Symbol be¬ graben müssen. Und glücklich mögen sich preisen die, welche sagen können: Wir haben ihn ge¬ schaut: er lebt in uns, uns ist er kein Toter. |