A ÖST^eSTT ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT^/ FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM. Herausgegeben und redigiert von LEO WINZ. Alle Rechte vorbehalten. Heft 5. Mai 1909. IX. Jahrg. HUNGARICAE RES. Von J akob Krausz, Wien. Nachdruck verboten In der ungarischen Hauptstadt hat sich jüngst ein Ereignis vollzogen, dem im Auslande viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wie man meines Erachtens in Europa über die Vorgänge in Ungarn, besonders was die dortigen Juden betrifft, fast garnicht oder falsch informiert ist. Das Er¬ eignis, dem ich eine grosse politische Bedeutung beimesse, ist die im Monate März ei folgte Kon¬ stituierung des „Ungarischen Israelitischen Kultur¬ vereines", der seinen Sitz in Budapest hat und seine Tätigkeit auf ganz Ungarn erstrecken wird. Ueber die Ziele und das Tätigkeitsprogramm dieser jüngsten jüdischen Organisation liegen zwei verschiedene programmatische Kundgebungen vor, die wohl nicht den ganzen Zweck des Vereines verraten und die wahren Gründe seiner Entstehung schonungsvoll verhüllen, dem aber, der auch zwischen den Zeilen zu lesen versteht, genügenden Einblick in die gegenwärtige Lage der Juden in Ungarn gewähren. Rabbiner Dr. Simon Hevesi, einer der begabtesten und beredtesten Schüler des Budapester Seminars, von dem die Idee zur Gründung des Ver¬ eines ausgegangen war, erklärte in der konstituieren¬ den Versammlung, der Zweck der Vereinigung sei, „das ungarische Judentum mit den reichen geistigen Schätzen seines Glaubens bekannt zu machen, die Zukunft der in ihrem Bestände gefährdeten jüdischen Schule zu sichern, auf patriotischer und religiöser Grundlage das jüdische konfessionelle Leben zu stärken." Viel klarer sprach sich der mit Akkla¬ mation gewählte erste Präsident des Vereines Baron Moritz L. Herzog über seine Absichten aus. Er sagte u. A.: „Wenn ich mit unendlicher Freude es unter¬ nehme, hier mitzuwirken, so ist die Triebfeder dabei — aufrichtig gesprochen — jene erhabene Parole, welche unser soeben konstituierter Verein auf seine Fahne geschrieben: Entwicklung der ungarischen israelitischen Kultur auf patri¬ otischer Grundlage. In Verwirklichung dieses Losungswortes erblicke ich die Beseitigung der in der ungarischen Gesellschaft leider noch immer vorhandenen Scheidewände, die Bekämpfung des zum Teile offenen, aber überwiegend latenten Partikularismus der Rassen. Seien wir in erster Reihe Ungarn, bestreben wir uns, in der Schule, in der Familie, im öffentlichen Leben die patriotische Kultur zu verallgemeinern. Ich bin der festen Ueberzeugung, dass unser Verein schon in naher Zukunft das erreichen wird, was unser altes, heiss ersehntes Ziel ist: eine ge¬ bildete, einheitliche, daher starke ungarische Ge¬ sellschaft!" Diese äusserst bezeichnenden Worte des j üdischen Barons, der sich mit Recht des grössten Ansehens im Lande erfreut, und dennoch über die „noch immer vorhandenen Scheidewände" in der ungarischen Gesellschaft und den „Partikularismus der Rassen" klagt, klingt wie ein Notschrei, und es ist für den Kenner der Verhältnisse kein Zweifel, dass die Gründung dieses Vereines den Charakter einer jüdisch-politischen Notstandsaktion an sich trägt. |