405 Literarische Rundschau. 406 des Maimuni nachgezeichnet, und die Zeichnung gehört zu dem Besten, was wir über den Verfasser des Mischneh Thorah und dos Morel 1 besitzen. Es folgt die den Lesern von ..Ost und West" noch gewiss sehr wohl aus der hier veröffentlichten LFebersetzung über ..Das Wesen des Juden¬ tums" erinnerliche Studie. ' (..Ost und West" November- Dezember 1910). Diese Abhandlung, die nachher in fast alle wichtigsten europäischen Sprachen übertragen worden ist. hat sehr grossen und nachhaltigen Eindruck gemacht? die besten und bedeutendsten Köpfe unter den Juden aller Länder hatten das Gefühl, wie wenn ihnen plötzlich ein ungeahntes Licht aufgegangen wäre, Und in der Tat hatte his dahin noch keiner das Wesen des Judentums nament- im Unterschiede von Christentum so klar und präzise, mit' soviel Scharfsinn und von eine]' so ungewöhnlich hohen Warte herab fixiert. Das war eine geniale Tat, Die Ab¬ leitung des Wesens der jüdischen Religion und der von ihr gelehrten Ethik aus einer psychologischen Wurzel, und die Entfaltung der jüdischen Eschatologie und des jüdischen Menschheitsideals aus diesem Wesen wird denkwürdig bleihen. Nicht minder bedeutsam sind die nebenbei einher¬ gehenden Bemerkungen, so über das jüdische Eherecht u. a. Diese Studie darf wohl als das Beste bezeichnet werden, was Achad Ha am uns geschenkt hat. Sie hat Viele, Viele, die viel¬ leicht zu den Besten in der Judcnheit der Gegenwart zählen, auf den richtigen Weg geleitet und zu jener Höhe cinpor- gewiesen, von wo aus sieh ungeahnte Horizonte eröffnen. Trotz der grossen Fülle der mächtigen Gedanken und originellen Anschauungen, die der Autor ausgestreut hat, wäre es durchaus verfrüht, ein abschliessendes Urteil über seine Persönlichkeit und seinen Geist zu fällen. Man hat überall die Empfindung, dass er sein -letztes Wort noch lange, lange nicht gesprochen. Soviel aber fühlt man, dass man es mit einer Individualität zu tun hat, deren Bann man sich nicht zu entziehen vermag, auch dort, wo man zu ihren Anschauungen Nein, Nein und abermals Nein sagen muss. Auch für den Widerspruch, den er weckt, ist man ihm von tiefstem Herzen dankbar, denn er ruft ganze Reihen weitausgreifender Gedanken wach, zeigt die Dinge von neuer Seite und zwingt zum Nachsinnen, zum Forschen, zur straffen Zusammenfassung des Denkens. Auf diese Weise wirkt er- befruchtend und belebend, wirkt er schöpferisch,. auch da, wo man seine Lehren, ja manche seiner Grundanschauungen ablehnen muss. Dass dem Innenlehen eines solchen hohen Menschen die Tragik nicht fehlen kann — abgesehen schon von den äusseren Wechself allen des Lebens, denen sich in unseren schweren und schrecklichen Zeiten kein Edehnensch ent¬ ziehen kann und will — ist beinahe selbstverständlich. Schon der Umstand allein, dass dieser zum geistigen An¬ führer geschaffene Mensch durch die Umstände (und ein wenig auch wohl durch sein Temperament) beinahe ein Parteiführer (es kostet förmlich Ueberwindung, diese triviale Bezeichnung auf ihn anzuwenden) geworden ist, ist tragisch. Eine Zeit lang war er ja sogar Redakteur! Ein förmliches Herzweh beschleicht einen beim Lesen des letzten Essays in diesem vierten Bande „Ein misslungener Versuch", die die Geschichte der Gründung des Bundes „Bene Moschc" erzählt. Und das Tragischste daran ist, dass man sich sagen muss: es ist gut, dass der Versuch misslungen ist. Wie viel edle Kraft wurde hier nutzlos verpufft.! Als ob die Juden so reich wären, ich meine reich an wirkenden und schöpferischen Potenzen, dass sie sich den Luxus einer sinnlosen Kräftevergeudung erlauben dürften! . . . Weniger tragisch wird man es nehmen können, dass der Verfasser in der Beurteilung der türkischen Revolution und des Jung- türkentuins sich so gründlich geirrt hat, Das ist ja bei der ganzen europäischen Diplomatie in einem noch grösseren, jedenfalls verhängnisvolleren Grade der Fall gewesen. Sonst sind die Ansichten Achad Haams überall, wo er über Zeit¬ fragen und Angelegenheiten der Tagespolitik bandelt, von merkwürdiger Hellseherei; in dem unscheinbarsten Vor¬ gang sieht er die Keime künftige]- Entwicklungen und die Wirklichkeit hat ihm, — er wird wohl selber sagen: leider! — immer Recht gegeben. Denn es ist selbstver¬ ständlich, dass seine Ratschläge und Warnungen nur sehr selten gehört und fast nie befolgt wurden. Die kompakte Majorität war stets gegen ihn, und es gibt kein dümmeres und unbesiegbareres Tier, als die kompakte Majorität der „Gebildeten" .... Mit was für Gefühlen aber muss Achad Haam den Essay „Die Lehre von Zion" geschrieben haben! . . . Es ist dies ein Meisterstück der Polemik, ein umso schwierigeres, als der Verfasser hier bei aller Schärfe, aus Ritterlichkeit mit grosser Schonung vorgehen musstc, da er es mit einem schwächlichen und kleinlichen Gegner zu tun hatte, der gleichwohl bekämpft werden musste. Der Fernstehende kann sich jedoch von dem peinlichen Gefühl nicht befreien, dass der hier bekämpfte Gegner sich gleichwohl, in ge¬ wissen Punkten wenigstens auf Achad Haams Grimdan- schauung selber berufen könnte, die er nur ein wenig- stark zu verbiegen und zu übertreiben brauchte, um seine ins Uferlose sich verlierende, ans Absurde grenzende „Lehre" hcrauszudeduzicren. Hier ist einer der Grundirrtümer der Gedanken des Verfassers und von hieraus wird sich der Riss in seinein Gedankensystem vertiefen und erweitern. Indessen wird auch hier, wie bei jeder bedeutenden Ge¬ dankenschöpfung, der Wert gar nicht in der Konsistenz des Ganzen und in dessen logische]- und unerbittlicher Konsequenz im Aufbau, sondern in der Wucht und Stärke der einzel¬ nen Bestandteile gesucht werden müssen, die jeder für sich fortwirken und fortschaffen werden. Es ist beinahe überflüssig, über Sprache und Stil der Essays zu reden: Krvstallene Klarheit, Knappheit, schärfste Präzision und zugleich unerschöpflicher Reichtum sind die Merkmale dieser Sprache. Der Stil hat etwas Herbes, Keusches, Verschlossenes, fast Abweisendes, ist von einem stillen, heimlichen Glanz und niemals rhetorisch und darum wirkt er doppelt eindringlich, wenn er, was bisweilen ge¬ schieht, den gcl'ühlsmässigen Unterton leise durchscheinen lässt. Gerade jene Stücke, deren Inhalt man, der vorge¬ tragenen Anschauungen wegen, ablehnt, liest man wieder und wieder, nur um diese 'merkwürdige Sprache und diese erlesene, ungewollte Stilkunst zu gemessen. Man darf annehmen, dass nach Abschluss des 4. Bandes dieser Essays für Achad Haam eine neue Lebensepoche be¬ ginnt. Vielleicht wird er manche seiner Anschauungen von Grund aus revidieren, vieles wird sich für ihn im Lichte der Zeit nach seinen eignen Erlebnissen geklärt haben. Und wenn er dann die Summe seines Denkens zieht, gibt er uns vielleicht ein Werk, welches für die kommenden Jahrhunderte im Geistesleben unseres Volkes eine solche Rolle spielen wird, wie ehemals der „Moreh,, des Maimuni. Junius. (Fortsetzung auf Seite 423/424.) |