320 Vom Kriegsschauplatz des Geistes 321 Enkelsohn eines der bekanntesten hebräischen Publi¬ zisten in Rußland, des Begründers und langjährigen Redakteurs des Petersburger „Hameliz", Alexander Zederbaum. Martow ist im Grunde dem Grafen Reventlow ebenso verhaßt wie Sinowjew, und unter anderen Umständen würde er ebenso nachdrücklich seinen früheren Namen betonen. Aber diesmal ist Martow der Repräsentant der Menschewiki, im Ver¬ gleiche mit Sinowjew also der sympathischere, er er¬ scheint als Held und Märtyrer, und zwar einer guten Sache. Darum wurde Graf Reventlow nicht müde, den fetten, ,, vollgefressenen" Sinowjew Apfelbaum zu nennen, „vergißt" aber gsrn, was er unzweifel¬ haft sehr wohl weiß, daß Martow Zederbaum heißt. Er spekuliert da auf die Verallgemeine¬ rung. „Die Sucht nach Verallgemeinerung erregt bei den Betroffenen das Streben nach Höchstleistungen. Die Pflicht, sich ganz besonders auszuzeichnen, wird zu einem sittlichen Programm der Minderheit. Jedes Glied fühlt sich verantwortlich für das Ganze. Da dieses Streben aber wiederum die innere Kraft der Gemeinschaft verstärkt, ihr Selbstbewußtsein und ihren tatsächlichen Wert hebt, wirkt sie auf andere Quellen des Fremdenhasses verstärkend." Es handelt sich, wie man sieht, bei den psychologischen Pro¬ zessen, die den Judenhaß formen, nicht um spezi¬ fisch Jüdisches an sich. „Gewiß sind nicht alle von gleicher Verbreitung und gleicher Tiefe. Überall und immer wirken das sachliche Moment des Kraft¬ bewußtseins der Majorität und das formelle der Verallgameinerung/' — Der Antisemitismus ist also nur „eine Spezialf rage aus dem größeren Gebiete des Fremdenhasses, aber keine Sondererscheinung der jüdischen Geschichte, die für sich allein be¬ urteilt werden müßte." Die geschichtlichen Ur¬ sachen, die den Antisemitismus in die Erscheinung bringen, sind dreierlei: das religiöse, das wirtschaft¬ liche, das Rassenelement. Im Mittelalter sah die Kirche das Prinzip ihrer alleinigen seligmachenden Kraft und das Prinzip der Glaubenseinheit ,,durch die verfluchten Juden gestört, die sich nicht nur er¬ hielten, sondern recht oft ein beachtenswertes und erfolgreiches Dasein führten". Die Disputationen be¬ wirkten nur noch eine Verstärkung des religiösen Antisemitismus, „denn sie ließen immer wieder er¬ kennen, daß nur der Appell an die Gewalt dort helfen könne, wo logisch und verstandesmäßig das Über¬ gewicht nicht zu erzielen war. Das Gefühl der zahlen¬ mäßigen Überlegenheit, der Majoritätsinstinkt, wurde auf diesem Wege besonders erweckt". Die Reformation und die Aufklärung haben den religiösen Antisemitismus bedeutend geschwächt, aber sein Erbe ist der moderne wissenschaftliche Antisemitismus, der besonders in der protestantischen Theologie gepflegt wird. .„Das alte Dogma von cler alleinseligmachenden Kirche ist in verklärter, idealisierter Gestalt zu dem neuen Dogma geworden, daß das Christentum — und zwar immer das des gerade schreibenden For¬ schers — die höchst denkbare Vollkommenheit religi¬ öser Fortentwicklung bedeutet. Auf dieser Grundlage muß natürlich das Judentum als eine, längst über¬ wundene Religionsstufe dargestellt werden. „Freilich muß anerkannt werden, daß es auf diesem Gebiete einen Unterschied gibt zwischen antisemitischer Ten- denzforschung und wirklicher Wissenschaft. ... Nicht jede Wissenschaft, die zu ungünstigen Ergebnissen in bezug auf das Judentum kommt, ist antisemitisch." Der Verfasser warnt davor, daß man auf jüdischer Seite hier angebrachte und berechtigte Kritik mit bewußtem Angriff unter Mißbrauch der Wissenschaft verwechselt. — Der wirtschaftliche Antisemitismus, der sich häufig in das Gewand des Religiösen hüllt, bediente sich der Gesetzgebung, um die Juden auf den Geldhandel zu beschränken. „Die Gesetzgebung bewirkte eine ungesunde Berufsverteilung, die un¬ gesunde Berufsverteilung gab den Juden für bestimmte Gebiete besondere Fähigkeit, und der notwendiger¬ weise hieraus entspringende Erfolg wird wieder zum Quell des Judenhasses, der eine gerechte und gesunde Gesetzgebung immer wieder vereitelt." Der Rassenantisemitismus, der an die Stelle der religiösen Ideologie des Judenhasses getreten ist, hat eine leichte Aufgabe. Für ihn g2nügt das Anders¬ sein der Juden, ihre Rassenfremdheit, eine Ver¬ folgung und Entrechtung zu begründen. Dabei ist die Rasse ein Verhängnis, dem man weder durch Massentaufen noch durch Annahme anderer Berufs¬ arten noch durch persönlich lauteren Wandel ent¬ gehen kann, sie ist auch für die Menge das bequemste Erklärungsmittel aller sozialen Erscheinungen. Es gibt drei Stufen: zuerst ist alles Jüdische anders, fremdartig, und muß schon aus diesem Grunde allein ausgesondert werden, dann ist alles Jüdische minder¬ wertig, schlecht; schließlich ist alles Schlechte jüdisch. Daher der Kampf der Rassenantisemiten gegen das Christentum. Von der Rassentheorie wird der Natio¬ nalismus gespeist. Was der Verfasser S. 68—74 über den Nationalismus sagt, gehört zu dem Besten, was über dieses Thema geschrieben worden ist. Treffend ist die hier meines Wissens zum erstenmal gemachte Bemerkung, daß der Nationalismus aus der Hegeischen Geschichtsauffassung reiche Kraft gesogen hat. Wenn es wahr ist, daß, wie Hegel lehrte, alles, was besteht, vernünftig und berechtigt ist, so haben alle nationalen Eigentümlichkeiten und „Eigenarten", mögen sie an sich noch so minderwertig und vom allgemeinen sittlichen Standpunkt noch so verwerflich sein, den besten Wert an sich, eben weil sie vor¬ handen sind. Daher die Selbstvergötterung besonders der kleinen und der Emporkömmlingsnationen, die an die Welt den Anspruch erheben, sie müßte ihnen behilflich sein, ihre kostbaren Eigenarten zu konser¬ vieren. — Den Taufjuden widmet der Verfasser ein besonderes Kapitel, er betrachtet das Renegaten¬ tum als einen der Hauptfaktoren der Verbreitung und Verstärkung des Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart. ,,Es liegt in der Natur der Renegaten¬ seele, daß sie in ihrer neuen Umgebung sich recht beliebt zu machen sucht und den Wandel der Ge¬ sinnung deutlich beweisen will." Daher die vielen Anklagen gegen das Judentum, die aus den Kreisen der Abtrünnigen kommen. ,,Die Ehrfurcht vor den Lehren des Christentums, die jedem anständigen Menschen und besonders jedem Juden eine Selbst¬ verständlichkeit sein müßte, kennt der Täufling nicht, weil er traditionslos und ohne Achtung vor dem geschichtlich Gewordenen durch das Leben geht. Der Renegatencharakter ist ein typisch minder¬ wertiger! Die christliche Welt lernt aber nur den getauften Juden intimer kennen, und da sie in ihm den Juden erblickt, erscheint er ihr als der typische Vertreter der Judenheit." ,,Da die Welt nur diese Juden kennt, ist das Bild, das vom Judentum ver¬ breitet wird, ein ungünstiges, und wenn in Wahrheit alle Juden so wären, wie es nach dem Bilde der Täuflinge das Ansehen hat, so würde der Judenhaß fraglos verständlich sein/* Der Verfasser sieht voraus, daß der jetzt vor¬ herrschende Rassenantiseinitismus von einer neuen Welle des religiösen Judenhasses abgelöst werden wird |