IubMWeralebeÄMg Organ der Vereinigung für das liberale Judentum e. V. ;»er««twortl. Redakteur: bruno Wo yd a. vtzevereirügung für das liberale Zudeutum übernimmt nur Hte diejenigen Äuffütze, die ausdrücklich als in ihrem Aonien »der in ihrem Austrage verfaßt gekennzeichnet sind, die Der- «atoortuug. Alle anderen Artikel, Aeuheruagen und vor- ichtLge erscheinen unter der Verantwortung der Redaktion. Die «Jüdisch-liberale Zeitung- erscheint jeden Mittwoch. Redaktion und Geschäftsstelle Verüu SW 11. Hallesche Str. 1 Fernruf: Bergmann 3358, 3359 H Nachdruck sämtlicher Original-Beiträge Postscheckkonto: Verllu NW 7. 1370öS ll nur mit vorheriger Genehmignag der (Vereinigung für das liberale Zudeutum) fl Redatnou gestattet. Bezugspreis durch die Geschäftsstelle '/«jährlich M. KM»! Einzelnummer 0.25. Bei freier Zusendung i. Inland 0.30 Für die Mitglieder der Vereinigung ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrage enthalten. Anzeigenpreise: Die 12gefpalt.Nonparelllezeile0.45 Anz eigentarif durch die Geschäftsstelle. Avzeigeuau- uahme bei der Gefchästsstelle tu fämtL Annouceu-Es»edit. Nr. 34 Berlin. 20. August 1930 10. Jahrgang Die mllomlWalWche Gefahr Daß in dem Reichstags den das deutsche Volk am 14. September wählt, etwa jeder'zehnte Reichstagsabgeordnete der Nationalsozialistischen Partei angehören wird, muß leider schon heute als Tatsache angenommen werden. Hüten aber sollte man sich davor, dieses unzweifelhafte Anwachsen der national¬ sozialistischen Bewegung nur einseitig unter jüdischem Gesichts¬ winkel zu werten. Gewiß ist der Antisemitismus eine Wurzel, vielleicht die Hauptwurzel der wachsenden Bewegung. Aber da beute von den Nichtjuden die Einen in dieser Frage vor¬ urteilsloser Betrachtung nicht mehr zugänglich find und die Anderen sie als ein Blümlein Rühr-mich-nicht-an betrachten, sollte d.er Kampf von allen vom jüdischen Schauplatz auf den ihm gebührenden Kampfplatz Verlegt werden, auf den Kampfplatz um die deutsche Zukunft. Tie Nationalsozialisten schmähen uns Inden; das geht gewiß nicht nur uns selbst an. Aber weit mehr noch geht es die Reichslagswähler an, daß ihre Lehre eine Schmähung des deutschen Volkes, der Menschheit schlechthin ist. Nehmen wir einmal ruhig an, daß die Inden alle schlechten Eigenschaften besäßen, die ihnen ihre Gegner andichten und noch einige hundert dazu. Wäre es dann nicht die größte Mißachtung des deutschen Volkes, zu vermuten, daß es sich durch eine derartige jüdische Gesellschaft verführen läßt? Werfel hat einen seiner Romane genannt: „Nicht der Mörder, der Er¬ mordete ist schuldig". Wenn dieses Paradox irgendwann einen Sinn haben kann, hier müßte es, hätten die Antisemiten recht, Anwendung finden. Tenn die Tatsache.ließe sich ja nicht aus der Welt schaffen, daß diese Tötung der deutschen Seele ohne militärische Machtmittel nur durch freiwillige Fügung einer neunundncunzigsachcn Ueoermacht möglich ist. Adolf Hitler hat ein Buch „Mein Kampf" geschrieben, in dem sich zum Beispiel dieser Satz findet: „Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmil¬ lionen menschenleer durch den Aether ziehen." Lassen wir einmal .Hitlers Prophezeiung gelten. Müßten dann nicht die herrlichsten Gesänge auf die Juden angeftimmt werden, die derart Gewaltiges, gleichoiel, ob es erwünfcht ist oder nicht, zu vollbringen vermögen? Alle Juden Teutsch- lands zusammen wählen schätzungsweise sechs bis sieben Reichstagsabgeordnete. Ter aufgelöste Reichstag zählte -191 Mitglieder, unter ihnen 12 Nanonalsozialisten. Wenn bei diesen Zahlcnverhältnissen der vom deutschen Volk gewählte Reichstag, wie .Hitler meint, je „die seichteste Schwätzerinstitu¬ tion ^ aller Zeiten" werden konnte, wenn all fein Schaffen „verjudet" war, so ist da-: doch ein geistiges Armutszeugnis für das nichtjüdische Teutschland. Hätte Hitler mit den Ju¬ den Recht, sein Narionalstolz ermangelte des Objektes, auf den es stolz sein könnte. Man mag es für richtig oder für falsch halten, wie die Nationalsozialisten die jüdische Rasse werten. Mag ihr ge¬ ringschätziges Urteil anerkennen oder das Vorzeichen tauschen. Gleichviel. Tas Eine ist gewiß: jede derartige Kollektiv- Wertung von Menschengruppen nach dem Blute statt nach dem Geiste, jedes Anerkenntnis des Rajsenprinzips im Staate muß zur Auflösung des Begriffes der Volksgemeinschaft führen. Soll die Willensentscheidung des Einzelnen durch den Nach¬ weis des Stammbaums ersetzt werden? Wie viele wohl wer¬ den den Nachweis der Reinrassigkeit führen können nach der —- um mit .Hitler zu reden — erfolgten „Blntscergiftung, da jede^ Warenhausjüdin als geeignet gilt, die Nachkommen¬ schaft Seiner Durchlaucht — die allerdings dann danach aus¬ sieht — zu ergänzen." (Im umgekehrten Falle würde Herr Hitler wohl von der Schändung des armen Christenmädchens durch den feilen Juden reden.) Toch Rasse hin — Rasse her. Wie gering muß man die Macht der deutschen Kultur, den Klang der deutschen Sprache, den Zauber der deutschen Heimat schätzen, wenn sie nur einer Rasse etloas gelten können. .Hier offenbart sich die ganze Gefahr: daß die Geisteskultur durch Rrssenverherrli- chung ersetzt wird. Frank Thieß hat diese Gefahr richtig er¬ kannt, als er schrieb: „Tas Rassegefühl als politisches Kampf¬ mittel muß endlich ausgegeben werden, denn dadurch wird die Verwirrung maßlos vergrößert und das Unheil zu ungunsten der großen geistigen Standpunkte permanent gemacht. Es geht nicht an, daß jeder siebzehnjährige pommersche Jnspektörs- sohn einfach! durch die nichtssagende Tatsache seines unjüdischen Blutes sich für einen erlesenen Sproß Gottes hält und bei den Namen Liebermann, Rathenau oder Einstein ausspuckt. Hier wird nicht der Jude beleidigt, sondern in ihm der Geist durch einen, der noch nicht einmal das ABC des Denkens! gelernt hat. Auf Grund nicht der geringsten Leistung wird so ein unchristlicher, barbarischer Hochmut erzogen, der sich wie jede .Hybris am ganzen Schicksal der Rasse rächen muß." Gilt die Auffassung als richtig, daß das Blut den Geist formt, so sind die geistigen Verschiedenheiten innerhalb der gleichen Blutsgemeinschaft unerklärbar. Und es ist wahrlich nicht verwunderlich, daß dann die Wertung der Persönlichkeit ersetzt wird durch die Hochschätzung des eigenen und die Ge¬ ringschätzung des fremden Raffenangehörigen. Schiller sagt im Wallenstein: „Es ist der Geist, der sich den Körper baub" In der neuen Toktrin bestimmt stattdefsen das Blut dm Geist. Tie Kosten für diese Wandlung, erhält sie in der Politik Geltung, wird das deutsche Volk zu zahlen haben. .Hat dieses doch niemals Persönlichkeiten nöliger zur Leitung seiner Ge¬ schicke gehabt als in dieser traurigen Gegenwart. Toch nicht nur im Inneren drohen dem deutschen Volke Gefahren von der nationalsozialistischen Bewegung. Tie deut¬ sche Außenpolitik der letzten zehn Jahre, die auf die Befrie¬ dung der Welt und die Revision des Fricdensvertrages von Versailles durch Verständigung abzielte, soll durch ein neues Blutbad kriegerischer Verwicklungen ersetzt werden. Hitler — und wie der Herr, so's Gescherr — schreibt in seinem Buche ganz offen, cs muß „von der Fibel des Kindes angesangen bis zur letzten Zeitung jedes Theater und jedes Kino, jede Plakatsäule und jede freie Bretterwand in den Tienst dieser einzigen großen Mission gestellt werden, bis daß das Angst¬ gebet unserer heutigen Vercinsvatrioten „.Herr, mach uns frei!" sich in dem Gehirn des kleinsten Jungen verwandelt zur glühenden Bitte: „Allmächnger Gott, segne dereinst unsere Waffen; sei so gerecht, wie du es immer warst; urteile jetzt, ob wir die Freiheit nun verdienen; .Herr, segne unseren Kamps!" Wahrlich, weniger kann man nicht vergessen, weniger kann man nicht hinzugelernt haben. Unterliegt es doch keinem Zweifel, daß ein neuer, von Teutschland provozierter Krieg den Verlust der deutschen Selbständigkeit, den Untergang deut¬ schen Volkstums im Gefolge haben würde. Hitler hat für die Gegnerschaft der Anderen ein cmsach.es Rezept. Bon Eng¬ land sagt er: „In diesem Lande der „freiesten Demokratie" Wir veröffentlichen den nachstehenden Artilel, der eine Ansicht wicdergibt, die in zahlreichen an uns gelangten Zuschriften zum Leitartikel der vorigen Nummer zum Aus¬ druck kommt. Wir glauben aber, daß dennoch die in der vorigen Woche hier vertretene Ansicht nicht unberechtigt ist. Es ist selbstverständlich, daß ein Jude keine Partei wählen kann, die ihm die Mitarbeit in der Partei satzungsgcmäß nicht ermöglicht. ES erscheint uns ferner vom Standpunkt des einzelnen Wählers aus verfehlt, die Wahlenücheidung nur unter jüdischen Gesichtspunkten zu treffen. Bai den¬ jenigen Parteien, bei denen Juden auf Grund der Partciver- sassung als Mitglieder teinerlci Beschränkung unterliegen, scheint cs unS Pflicht der sich zum sonstigen Parteiprogramm bekennenden jiidrschen Deutschen zu sein, darauf hinznwirken, daß es in Zukunft eine „Judcnsrage" in der Partei nicht mehr gibt. Da das Anschwellen der antisemitischen Bewegung nicht zuletzt aus die wirtschaftlichen Verhältnisse zurück- zuführcn ist, dient auch der Bekämpfung des Antisemitismus jeder am besten, wenn er neben den jüdischen Gesichtspunkten auch wirtschaftlichen Betrachtungen Raum gibt. Für Sozialdemokraten ist selbstverständlich die hier er¬ örterte Problematik nicht gegeben. Daß sie die sozialdemo¬ kratische Liste wählen, ist selbstverständlich. Daß oder jemand nur wegen der Jndenfrage die sozialdemokratische Liste wählen soll, wenn er sich beispielsweise von ihrem Wirken aus wirt¬ schaftlichem und sozialem G-ebict eine weitere Verschlechterung unserer Lage verspricht, erscheint uns von jedem Standpunkt; aus kaum möglich. Die Red. Es war einmal ein Herr, dessen Pelz so schmichijg geworden war, daß. er ihn nicht mehr tragen lonnte. Ta ries er seinen Knecht und befahl ihm: „Wasche mir den Pelz, aber mache ihn nicht naß!... So lieb Tir Tein Leben i st," ... Es war einmal eine sehr besorgter Vater, der seine Familie und die schwachen Kinder sehr liebte. Da drohte unmittelbar eine große Gefahr. Ter Vater versammelte seine Familie: „Meine Kinder", ries er, „die Gefahr steht vor¬ der Türe. Ich will Euch retten durch den besten Rat! Wenn die Gefahr kommt, so mache jeder was er will!"... Es war einmal ein Politiker, der das Wort prägte von „dem Jntecesseutenhausen, gegenüber dem einigen Staats- rolke!" Uno als' es notwendig wurde, siehe, da zerfiel, die feisteste Gemeinde als Staatsvork, von allein in vielfache Jnteressentenhaufen. Und das nannte man dann Politik!... Das Berliner Wahlbüro des Liberalen Vereins befindet sich am Halleschen Ufer 22 Telefon: Bergmann 9666—67 diktiert der Jude auf dem Umweg der öffentlichen Meinung heute noch fast unbeschränkt." Von Frankreich: „Tiefes an sich immer mehr der Vernegerung anheimsallende Volk bedeu¬ tet in seiner Bindung an die Ziele der jüdischen Weltbeherv- schung eine lauermde Gefahr für den Bestand der weißen Rasse Europas." Von den Vereinigten Staaten: „Aber nichft nur die alte Welt hält der Jude umgarnt, sondern auch der steuen droht das gleiche Schicksal. Juden sind die Regenten der Börsenkräfte der amerikanischen Union." Anders als sonst in Menschenköpfen -malt sich in diesem Kopf die Welt. Soll von solchen Narren die Welt in neues, noch größeres Unheil gestürzt werden? Stresemann hätte dieser Gesellschaft wohl beharrlich seine Rückseite zugekehrt. Will sie Scholz nach den Wahlen als Bundesgenossen be¬ grüßen? Tie Entscheidung der Reichstagswahlen am 14. Septem¬ ber wird nicht nur für die Judenfrage, sie wird für die Ge¬ samtinteressen des deutschen Volkes von Bedeutung sein. Und deshalb ist es nicht nur für uns als Juden, sondern nicht minder für uns als Deutsche dringende Pflicht, mitzuarbeiten an der Vorbereitung der Entscheidung. Tas „Deutschland erwache" muß einen Sinn erhalten, durch den das deutsche Volk von her Kulturschande der nationalsozialistischen Bewe¬ gung befreit wird. B.W. Was ist o:e Knust der Politik? Politik ist nichts arideres als die Kunst des Voraussehens. Politisch denken Heist voraussehen, was eintrefsen wird oder muß, wenn in einer bestimmten Situation bcstimrnte Mittel angewen- det werden. Nichts wollen und nichts voraussehen, nur .rastlos greinen oder beten oder innigst wünschen: das ist das. Wesen des politisch dummen Kerls, des Spießbütgers. Es ist gleich, ob er die Landstraße als Lumpenproletarier be¬ völkert oder einen Kramlaoen hat, oder gar eine goldene Kette mit Brillanten trägt. Und so untersuchen wir in der vertrackten Zeit, jetzt die Politik, die den Juden sür die Reichstagswahlen an- zuraten ist. * Es wird schtoec fallen, bestimmte politische Gruppen nicht mit Namen zu nennen. Tue ich aber das, so möge man nicht eine bestimmte feindselige oder freundliche Ein¬ stellung gerade zu ocr Grupps vermuten, die mich leitet. Ich untersuche nur, ohne Sympathie oder Antipathie, wie ein mathematisches Ergebnis. Sehen wir ern klein wenig mathematisch voraus. Zu¬ erst nur einige Zahlen. In Teutschland leben nach oer letzten Volkszählung 560000 Juden. Nehmen wir die na¬ türliche Volksvermehrung etc. dazu, so wollen wir die runde Zahl von 600050 gelten lassen. Im wahlfähigen Alter dürf¬ ten ungefähr 160009 bis 180000 Juden stiehen. Uno da die Juden nicht zur Partei der „Nichtwähler" gehören, darf man annehmen, das ungefähr dieselbe Anzahl jüdischer Stim¬ men zur Verfügung stehen. Nehmen wir noch die unter unmittelbaren Einfluß Stehenden dazu, so kann man wohl sagen, daß die Juden 220000 bis 240000 Stimmen stlark sind. Tiefe Stimmenanzahi bedeutet, daß 6—8 Reichsta^s- mandate mit ihnen zu erobern sind. Jetzt bei den Listen¬ wahlen. In einer anderen Wahtlonstellation bedeuten diese jüdischen Stimmen noch mehr. Kann man aus diese Stimmen¬ zahlen eine Politik aujbauen? Treiben wir jetzt ein klein wenig abstrakte Politik! Tiefer jetzt zu wählende Reichstag wird aller Vor¬ aussicht nach kein langes Leben haben. Dazu sind die Ge- Der Aufmarsch ;u den Reichskagswahleu Zn dem Artikel von Moritz Simon. Von Sieg mu n d Reis. |