Seite 2. Frankfurter Israelitisches Familienblatt. Nr. 43 hier nur einen Schlamm zurück. Dem letzteren Mißstandc könnte nur Herr David Wolfsohn ein Ende machen, wenn er keine Konrpromißnatur wäre und den Mut hätte, den Knoten kühn zu zerhauen. Auf einer der vielen stürmischen Sitz¬ ungen der englischen Landsmannschaft während des letzten Kongresses, soll er, als er herbci- gerufen wurde, um einer peinlichen Situation ein Ende zu machen, sich dahin geäußert haben, daß das beste für den englischen Zionismus wäre, wenn man die beiden streitenden Parteien in den Ruhestand versetzen und die Leitung der Lands¬ mannschaft in die Hände von dominös novi legen könnte. Der zionistische Führer erkannte wohl, daß es das einzige Mittel sei, um der zionistischen Bewegung in England einen freien und natürlichen Lauf zu lassen, aber er plagt sich wahrscheinlich nach wie zuvor mit Bersöh- nungsversuchen, die, wenn schon zustande ge¬ bracht, die Lebensdauer der Eintagsfliegen be¬ sitzen. Inzwischen leidet hier der Zionismus an den Gegensätzen, die nichts als kindische Per¬ sönlichkeiten sind. Die Spendenausweise aus Eng¬ land in der „Welt" liefern hierfür einen Beweis, der nicht mißzuversteheu ist. Mi-hu-seh. Aus aller Wett. Deutsches Reich. Berlin, (Statistik.) Nach dem soeben erschie¬ nenen Bande der „Statistik des Deutschen Reiches" wurden 1905 wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 511519 Christen und 5109 Juden gegen 507 958 Christen und 5053 Juden im vorangcgange- men Jahre verurteilt. — Für Auswanderer! Nunmehr ist auch in Argentinien, Cuba und Mexiko, wie bereits in den Bereinigten Staaten und Canada, den an e g y p - tischer Augenentzündung (Trachom) Lei¬ denden die Einwanderung verboten. Das Krankenhcim der Synagogen¬ gemein de „AdaßJisroel" ist im abgelaufeneu Berichtsjahre von 394 Personen ausgesucht worden, von denen 91 in der inneren, 303 in der chiurgischen Abteilung behandelt wurden. Die durchschnittliche Be- legungsdauer eines Bettes betrug 24 Tage, die Summe der Bcrpflcgungstage 9060. Den Einnahmen von 62274 Jk (Jahresbeiträge 8614 Jk, Spenden 2076 Jk und Berpflcgungsgelber 42 604 Jk) stehen 61312 Jk Ausgaben gegenüber. Als leitende Aerzte fungieren: Prof. Dr. Blumenthal u. Dr. S. Adler, als Assistenten: Dr. G. Wolfsohn u. Dr. S. Möller. Berlin. Israelitische Erziehungs- anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Beelitz, Wilhelm-Auguste- Bictoria-Stiftung. Im Oktober ist der erste Spatenstich getan worden! Bereits für den nächsten Sommer kann die Einweihung der Anstalt erwartet werden, der durch Allerhöchsten Erlaß das Recht verliehen ist, den Namen Wilhelm-Augnste-Biktoria- Stiftung zu führen. Gleich wie die Lage des von der Stadt Beelitz geschenkten Waldgeländes in ge¬ sundheitlicher Beziehung nichts zu wünschen übrig läßt, so wird auch der Plan des Herrn Baumeisters Wterthum allen Anforderungen der Hygiene und den neuzeitlichen Fortschritten des Anstaltswcsens ge¬ recht. Die beiden Grünbungskörperschaften haben be¬ schlossen, einen Verein ins Leben zu rufen, der den Betrieb der Anstalt übernehmen wird. Für dessen Verhältnis zu den gleichberechtigten Besitze¬ rinnen der Anstalt bieten die Satzungen des Vereins „Jüdische Arbeiterkolonie" ein Vorbild, das sich aufs beste bewährt hat. Nach dem Willen der Begründer soll die neue Anstalt ein Wohltätigkeitsinstitut werden, das auch die wirtschaftliche Notlage unbegüterter, doppelt be¬ klagenswerter Eltern weitgehend berücksichtigt. Uni diese edle Absicht ausführen zu können, wird der Verein auf die Gewinnung einer sehr großen Zahl beitragender Mitglieder und auf die Unterstützung hochherziger Gönner angewiesen sein. Die Unter¬ haltungskosten für 40 Kinder, für die das Haus zu¬ nächst eingerichtet ist, sind sehr hoch zu veranschlage», zumal ein verhältnismäßig großes geschultes Per¬ sonal für diese schwierigste aller erzieherischen Aus¬ gaben gewonnen werden muß. Die Gründcrkörper» schaften als solche haben bereits ihre Leistungsfähig¬ keit durch Hergabe und Schaffung der Mittel für den kostspieligen Bau erschöpst. Berlin. Der Hilfsverein der Deutschen Jude n hat gemeinsam mit dem „Frankfurter Hilfs¬ komitee für die notleidenden osteuropäischen Inden" für die durch Brand heimgesuchte Stadt S h w a n e z 5000 und für M a i s a d, das abermals von einer Brandkatastrophe betroffen worden ist, weitere 1000 Mark überwiesen. Hamburg. In den A us w a n d e r er h a l l en wurden 1906 unter 101990 Auswanderern 43 445 Juden beherbergt. Gaislingen. In voriger Woche hielt der Landes¬ vorstand des „Friedrichsheim für israelitische Sieche und arme Greise" die übliche alljährliche Be¬ sichtigung der Anstalt ab, und bei dieser Gelegen¬ heit veranstaltete derselbe in den Räumen der An¬ stalt eine Gedenkfeier für Großherzog Fried¬ rich I., der als Protektor der Anstalt bis zu seinem Tode sein Wohlwollen zeigte. Pflauinloch. Nunmehr ist durch den Tod der letzten jüdischen Einwohnerin Pflauinloch ohne Juden. Der Friedhof wird von der israel. Oberkirchenbe¬ hörde weiter erhalten werden. Posen. Redakteur Stanislaus Kunz vom „Postemp" wurde wegen versuchter Nötigung zu 2 W o ch cit Gefängnis verurteilt. Er hatte in seinem Blatte gedroht, eine Anzahl Bürger von Buk, die er mit den Anfangsbuchstaben so bezeichnete, daß ihre Namen erkennbar waren, vor den Pranger zu stellen, wenn sie weiter bei Juden und Deutschen kaufen würden. ' Rhina. Am vergangenen Samstag Abend ver¬ anstaltete der hiesige S y n a g o g e n ch o r eine kleine A b e u d u n t e r h a l t u n g. Bei dem Festmahl, das aus diesem Anlaß stattfand, ivechsclten heitere Vor¬ träge mir von Humor gewürzten Toasten ab. Zu¬ letzt wurde das Tischgebet versteigert und der respek¬ table Betrag von 110 Jk erzielt. Die Summe soll zu wohltätigen Zwecken verwendet werden. Oesterreich-Ungarn. Wien. Sehr beherzigungswerteWorte schreibt G. Bettelheim in „Bloch's Wochenschr." über die C h e w r a - K a d i s ch a einst und jetzt: „Die heilige Bruderschaft löar früher und ist an anderen Orten noch gegenwärtig hoch in Ehren, weil sie ihren Mitgliedern reichlich Gelegenheit gab, Pietät und Humanität i» - schönster Weise persönlich zu üben. Das Chewramitglied hat die Pflicht, Kranke selbst zu pflegen, bei Schwerkrankcn zu wache», mit den Sterbenden die Stcrbegebele zu verrichten, Leichen zu reinigen, zu bekleiden und ins Grab zu betten. Die geringste seiner Pflichten war die Unter¬ stützung Bedürftiger. Für das gewöhnliche Mitglied der heiligen Bru¬ derschaft in Wien ist, wie auf fast allen Gebieten des jüdisch-religiösen Lebens, nur mehr der Jahres¬ beitrag übrig geblieben. Mau Hai alle Verrichtungen, die Anführung der Leichenzüge ausgenommen, be¬ zahlten Organen übertragen. Das Mitglied hat keine andere Aufgabe, als jährlich 21 Kronen zu entrich¬ ten. Das; da eine Begeisterung nicht auskommen kann, liegt ans der Hand. Ebenso begreiflich ist es, wenn dort, wo die Chewra in ihrer ursprünglichen Rein¬ heit erhalten wurde, wie z. B. in Budapest, ihr noch heute alle Herzen entgegenschlagen. Was unserer Religio» am meisten geschadet hat, die Wandlung aus einer Religion des Gemütes zu einer der Geldbörse, das kann der Chewra nicht von Nutzen sein." Wien. Bei der Debatte während der ersten Lesung des Ausgleiches nahm auch Abg. S t r a u ch c r, der Obmann des Jüd. Klubs, das Wort. Er besprach zuerst die inatericlle Seite des Ausgleiches und führte daun aus, seine Partei wolle sich mit dem Ausgleich befreunden, trotzdem die Juden und die Vertreter des jüdischen Volkes sich keines besonderen Wohlwollens seitens der Negierung zu erfreuen haben. Die österreichische Regierung lasse die Judenschaft von allen Seiten mit Füßen treten. Speziell die Zurücksetzung jüdischer Bewerber um öffentliche An¬ stellungen sei so kraß, daß sich kein anderer Volks- stamm eine derartige Behandlung gefallen lassen würde. Aber auch die Juden können es sich nicht länger gefallen lassen, in diesem Staate als vogel¬ frei zu gelten. Die Juden wollen nicht ewigbeiderNegierungumihrRechtbet- teln^ hier, im Bolkshause, ist der Platz, ihr Recht von jenen zu verlangen, die hier im Besitze der Macht sind, die durch ihre Stimmen darauf Einfluß nehmen können, daß endlich die Staats- grnndgesetze auch gegenüber den unterdrückten und verhöhnten Juden zur Wahrheit werden. (Lebhafter Beifall./ Budapest. Stiftung. Der Fabrikbesitzer Dr. Stefan Freund hat der „Chewra-Kadischa" zu Gunsten des zu errichtenden „K r a n k c n - A s Y l" 100 000 Kronen gespendet. ' Ein Iudcntag? Nach dem Vorbilde in Deutschland wird auch in Ungarn die Abhaltung eines Judentages ernstlich erwogen. Zahlreiche ge¬ meinsame Angelegenheiten sollten die „ungarländischc auton. orth. israel. Konfession" und die „ungar¬ ländische auton. neol. israel. Konfession" zu einer solchen Tagung zusammenführen; die politische und soziale Stellung der ungarischen Juden bietet ge¬ nügend Stoff." Interessant ist es, den Grund zu vernehmen, aus dem heraus sich die „Allg. Jüd. Rundschau" gegen die Abhaltung eines Judentages ansspricht. Das Blatt schreibt: „Die derzeitige Zusammensetzung der ortho- doxen Gemeinden und ihrer Leitungen ist nicht da¬ nach angetan, um die Garantie zu bieten, daß die respektive» Vertreter einen solchen Standpunkt einnehmen werden, wie er dem gcsetzestrcuen Juden- tum Not tut. So unglaublich es für die Uneingeweih¬ tem klingen mag, so ist es doch eine Tatsache, daß viele Gemeinden — siehe Großwardein, Preßburg usw. — nicht ausschließlich aus gesetzestrenen Juden be¬ stehen. Noch unnatürlicher und bedauernswerter ist es aber, daß in vielen dieser Gemeinden die Leiter und ein Teil des Vorstandes aus solchen Männern bestehen, die n u r „P r i n z i p - Or¬ th o d o x e n" sind, d. h. sie gehören wohl zur ortho¬ doxen Gemeinde, weil sie sich aus irgend welchen Gründen denselben angeschlossen haben, doch in i h r e r Gesinnung und Lebensweise sind sie wedergesetzestreueJuden noch konser¬ vativ gesinnt. Sie verdanken einfach ihremGelde oder ihrer sozialen Stellung ihre Wahl. Kommt es nun zu einem Judentag, so ist es mehr wie wahrscheinlich, daß diese Männer es ebenso durch- zusetzen wissen werden, als Delegierte gewählt zu werden, wie sie es durchznsetzcn wußten, Rosch-Hakohel oder Vorstandsmitglied zu werden. Und daß diese Männer bei einem Judentag nicht die Interessen der gesetzestrenen Juden ver¬ treten werden, ist mehr wie wahrscheinlich. Jnsolange die orthodoxen Gemeinden nicht eine reinliche Scheidung vornehmen, daß sie durch entsprechende Maßregeln die Sicherheit schassen, daß zumindest die L e i t u n g e n der Gemeinden a n s- schließlich aus gesetzestrenen Juden be¬ stehen, dürfen wir an eine Beteiligung an einem Judentag nicht denken." Borsa bei Marmaros - Sziget. Ein furcht¬ barer Brand legte die Häuser von 200 jüdischen Familien in Asche. Der Schaden dürfte fast 2 Mil¬ lionen Kronen betragen. Die Not ist sehr groß. Schweiz. Zürich. Das Schächten ist bekanntlich in der Schweiz verboten. Verschiedentlich wurde bereits von den Polizeibehörden versucht, in dieses Verbot auch das Schächten von Geflügel einzubeziehcn. Die jüdische Gemeinde Baden brachte die Angelegen¬ heit vor das Bundesgericht, das nunmehr ent¬ schieden hat, .daß das Schächten von Geflügel nicht in den Rahmen des Schächtverbots fällt. Rußland. Petersburg. Folgen der Hetztätigkcit des Mönchs I l i o d o r. Die antisemitische Agi¬ tation des Mönchs Jli'odor führt zu einer unglaub¬ lichen Verrohung im Gouvernement Wolhynien, wo Judenausschreitungen an der Tagesordnung sind. — In der Stadt Sokol dieses Gouvernements spielte sich folgende entsetzlich rohe Szene ab. In der Dämmerstunde fand dort die Beerdigung eines jüdi¬ schen Kindes statt. Diese Zeremonie mißfiel einer Bande von halbwüchsigen Burschen. Sie überfielen deshalb den Leichenzng, löschten die Laternen aus, mißhandelten die Inden und begannen mit der Leiche des Kindes wie mit einem Balle zu spielen, und mach¬ ten schließlich Anstalten, die Leiche in eine schmutzige Grube zu werfen. Die Ankunft der Polizei machte dieser gräßlichen Szene ein Ende. Rumänien. Bukarest. König Carol hat erst jetzt durch einen Zufall von den Folterungen der jü¬ dischen Soldaten Kenntnis erlangt. Der König hat sofort den Kriegsminister, General Averescu, beauftragt, ungesäumt eine gründliche Untersuchung gegen den Oberst Marasescn neuerdings einzuleitew und ihm von dem Ergebnis Bericht zu er¬ statten. Diesem allerhöchsten Befehle zufolge wird sich Oberst Marasescn gemäß den vom Kriegsminister getroffenen Dispositionen Mitte November vor einem Kriegsgericht zu verantworten haben. Palästina. Jerusalem. Das Projekt des Misrachi, in Palästina eine Schule zu gründen, die allen Anforderungen Rechnung tragen soll, auch denen, welche der strenggläubige Jude zu stellen be¬ rechtigt ist, hat hier bei dem überwiegende» Teil der religiösen Mitglieder der Gemeinde großen Bei¬ fall gesunden, zugleich aber auch einige der Ge- meindelcitcr in eine unaussprechliche Verlegenheit versetzt. Man kann sich ja leicht in die Lage jener Männer hineindenken, wenn man namentlich den Stand der palästinensischen Jugend — wie es mit deren Torahbeflissenheit einer- und mit deren Reli¬ giosität andererseits abwärts geht — nicht ans dem Auge verliert. Daß aber etwas geschehen niüssc, haben auch sic längst erkannt.- Allein was? Das ist die brennende Frage, über die sie nicht hinaus- gekommcii sind. Das Torahstudium soll ja doch zu¬ mindest im heiligen Lande intensiv betrieben werden. Das gibt doch Jedermann gern zu. Warum be¬ friedigt aber dieses Studium nicht mehr unsere Jünger? Welches Mittel wäre das geeignete, sie der Torah dauernd zu erhalten? . . . Frage auf Frage, aber keine Antwort ... |