y- - - ■ . . — Erscheint wöchentlich am Freitag. Ktt»S»prris pro Vierteljahr: In Frankfurt a. M. Mk. I.— frei inS Haus. Bei der Post abonniert 90 Pfg., frei inS S aus 4 Pfg. pro Monat mehr. — Bei Zusendung durch treifband für Deutschland und Oesterreich-Ungarn Mk. 1.50, für Rußland 1 Rubel, für alle übrigen Länder Mk. 2.— Einzel - Nummern kosten 10 Pfg. Redaktion und Expedition: Franttfurt a. m. :: Cangeftr. 7 Fernsprecher Amt Hansa 2903. Heeansgevee: Kaks Heis. f r ' - — ' — Inser tions p r eis für die fünfaespaltene Petitzeile 35 Pfg., für die Reklamezeile Mk. I.—. Ber Wederholungen entsprechender Rabatt. Stellen-Angebote und -Gesuche, Wohnungsinserat^ Heirats-Annoncen 15 Pfg. die sechsgespaltene Petitzeile ohne jeden Rabatt. Platz- und Datum-Vorschrift ohne Verbindlichkeit!. Annoncen-Annahme bei der Exped. und in a.Annoncen^8ureauS.. Konto bei dem Postscheckamt in Frankfurt a. M. unter Nr. 4884. ' - 1 - - 13. Jahrgang. Freitag, den 22. Tewes 5675 (7. Januar 1915j «r. 1 Ein Brief ans Lodz. „The Amerikan Hebrew", ' New Jork. Ich bekomme ins Feld, wo ich als Rabbi¬ ner für die jüdischen Soldaten einer deutschen Armde tätig bin, die Nachricht zugesandt, daß in Ihrem Blatt eine Notiz gestanden habe, die die bekannten Taten der Russen in RadoM, über die seinerzeit das „Berliner Tageblatt" berichtet hat, in ihrer elementaren Wucht abzuschwächen und die Schuld von den Urhebern abzulenken sucht. Ich bin, der eigentliche Autor jenes Berichtes, habe also an seinem Inhalt und Schicksal alles Inter¬ esse und erlaube mir daher, Ihnen hiermit feier¬ lich und.mit dem ganzen Ernst unserer blutigen Zeit zu wiederholen: Es ist leider buchstäblich wahr! Die Russen haben in RadoM drei un¬ schuldige Inden ohne Gericht und ohne Urteil auf¬ gehängt, darunter einen Mann — den Sohn des in ganz Polen berühmten A l e x a n d e r R e b b e —, der von der ganzen Gemeinde wie ein Heiliger ver¬ ehrt wurde, der seine Tage, hinter dem Talmud sitzend Md seinen frommen Gedanken nachgrü¬ belnd, in bescheidener Zurückhaltung und Selbst¬ vertiefung verbrachte und sich nicht kümmerte um die Handel dieser Welt. Ich selbst habe. Gelegen¬ heit gehabt, eine der ungleichen Witwen in RadoM zu sprechen. Versteinert und starr in ihrem Schmerz saß sie vor mir; mit einer Ruhe, die Mir das Herz ergriff, nahm sie ihr grausiges Erleben als eine Fügung Gottes hin, und, wenn das zerrissene Herz aufschreien wollte vor wahn¬ sinnigem Weh, lehrte sie. ihr frommer Sinn, in Gottes Namen zu dulden und sich seinem Willen zu fügen. Und mit einem nervösen Zucken.mn den Mund erzählte sie mir mit gedämpfter Stimme von dem namenlosen Unglück, das sie getroffen, und den Männern, die durch Henkershand gefallen. „Mein Schwager — der Sohn des Alexander Rebbe — war ein'edler Mensch, eine stille Natur, ein göttlicher Mann." „Warum man sie gehängt?" „Fragen Sie den polnischen Denunzianten, der diesen dreifachen Mord auf dem Gewissen hat." Ueberhaupt krampst sich mir das Herz zu¬ sammen, wenn ich hier in Polen sehe und höre, welch entsetzliche Gewalttaten an den Inden , im Laufe dieses Krieges von den Russen verübt wor¬ den sind und tagtäglich verübt werden. Die Po¬ grome .früherer Zeiten sind ein Nichts gegen die rasende Vernichtung jüdischer Häuser und jüdischen Lübens, die mit dem russischest Heer sich durch ganz Polen wälzt, Mit ihm vorwärts, mit ihm rückwärts geht und es begleitet wie ein drohender Schatten. Mehr als 215 Ortschaften wurden bisher pogroMiert, und es ist kein Ende dieses Schreckens abznsehen. Ich will Mer ins Einzelne gehen und Ihnen Tatsachen beruhten, nackte Tatsachen, deren Wucht sich niemand wird verschließen können, . und die sich durch keinerlei Schönfärberei aus der Welt schaffen lassest: In Staschef wurden am Zaum Kippur elf Juden ' in Tallis und Kittel in der Synagoge aüfgkchängt. Mr Klodv w a wurden zwei der angesehensten jüdischen Bürger an einem Freitag Abend, als die Juden aus der Synagoge kamen, am Balkon des - eigenen Hauses aufgeknüpst, nachdem die Frau des einen selber die Stricke hatte herbei- hvlen Müssen. 24 Stunden "mußten die .Leichen hängen bleiben, Und die Juden der Nachbarschaft durften die Fensterläden nicht schließen, damit sie sich dem entsetzlichen Anblick nicht entzögen. Auf die Brust der Getöteten hatte Man einen Zettel Mit der Aufschrift geheftet: „Gehängt, weil er ein Drci-Rubelstück nicht wechseln wollte." In Lenczyca war eine Bürgerwehr einge¬ richtet, in der 70 Prozent Juden organisiert waren. Als das russische Militär nach L. kam, wurden sämtliche Juden sofort aus der Miliz entfernt, und in derselben Nacht haben die Kosaken ge¬ plündert und mißhandelt — nur in jüd. Häusern. In Shidlowiec haben sich jüdische Mäd¬ chen in den Pilicer Teich geworfen, weil sie ge¬ schändet worden waren und diese Schmach nicht durchs Leben tragen wollten. In Ostrowice forderten Kosaken die Aus¬ lieferung des Rabbiners Zaddik Kalischer, der gehängt werden sollte, weil er angeblich die Oestreicher begünstigt hatte. In Wirklichkeit war er zusammen mit dem polnischen Geistlichen den österreichischen und den deutschen Truppen sowie früher den russischen entgegengegangen und hatte uM schonende Behandlung der Einwohner gebeten. Da der Rabbiner sich versteckt hielt, warteten die Russen den hcrannahenden Jaum Kippur ab und umzingelten am Kol Nidre-Äbend die Synagoge, UM dort den Rabbiner gefangen zu nehmen. Als sie im Begriff waren, in das Bethaus einzudringcn, zogen die Deutschen in O. ein, und die Kosaken wurden Vertrieben, nachdem sie vorher Haus und Hof des Rabbiners zerstört hatten. Am 4. Dezember, - während des Freitag- Abend-Gottesdienstes, kam in Petri kau der Gouverneur mit Polizisten in die Synagoge, ließ sämtliche Torarvllen aus der heiligen Lade ent¬ fernen und diese nach einem.geheimen Telephon durchsuchen, das die Juden dort untergebracht hätten. Ist Klescew wurden 150 Juden als Spione verhaftet und nach Warschau geschleppt. Aus Schiradow, Pruschkow, Blalops- zek, Jwangorvd, Grodzesk, Skierne- w i c e und vielen anderen Orten wurden sämtliche Juden vertrieben. In Skiernewice traf sie der Ausweisungsbefehl am Freitag Abend, als sie gerade die Sabbathlichter angezündet. hatten. Und so gingen die 1000 Skiernewicer Juden aus ihren Wusern, ließen Licht und Challoh zurück und zogen, der Rabbiner an der Spitze, hinaus ins Dunkel der Nacht. Die Grodsisker Juden wollten sich nach Warschau wenden und baten durch eine Depu¬ tatton uM die Erlaubnis: Der dortige General hieß sie nach dem linken Weichselufer gehen, und, da sie antworteten, das wäre dasselbe wie in die Weichsel gehen. Meinte er zynisch, das wäre das allerbeste. .. Ist Lowiez.wurden zwei junge Juden aus Zgie'rz, Sandberg und Fraenkel, wegen angeblicher Spionage nach vorheriger Verstümm¬ lung des einen aufgehängt. Dasselbe Los wurde dem angesehenen Getreidehändler Moses Lip- schütz, einem dort sehr geachteten Talmudgelehr¬ ten, zuteil, weil er — vor, dem 'Krieg! — Ge¬ schäfte nach Deutschland gewacht hatte. In Bechawa (Lubliner Gouv.) wurden im Oktober 78 Juden an einem Tage wegen „Spio¬ nage" aufgehängt. In Kramostaw (Lubliner Gouv.) wurden viele Häuser eingoäschert, die Juden (200 Fami¬ lien) zum großen Teil mit Frauen und Kindern vernichtet. In L odz sind 15,000 Kleinhändler ihrer Habe beraubt und zu'Bettlern gemacht worden. Lodzer Frauen wollten ihre verwundeten Männer in den Lazaretten in Petersburg und Moskau besuchen. Es wurde ihnen verboten, weil diese Städte nicht im Ansiedelungsrayon (fegen. In Z d u n s k a W o l a wurden sämtliche FraHi und Mädchen geschändet; selbst eine Wöchnerin am dritten Tage nach ihrer Niederkunft und 'Kinder von 5 und 6 Jahren blieben nicht verschont. Eine Frau, deren Mann im Kttege war, starb an den Folgen einer Vergewaltigung. Bald darauf kehrte der Mami verwundet heim, fand sein Kind ohne Mutter und seine Frau von einem „Kameraden" zu Tode geschändet. Dies ein kurzer Wschnitt aus dem Bild der unerhörten Judenverfolgungen hierzulande, das "in seinen markantesten Zügen, Ihnen wieder¬ zugeben für meine Pflicht hatte, für meine Pflicht gegenüber der Wahrheit, der Kultur und dem' Judentum; denn „Du sollst nicht stehen bleiben beim Blute deines Nächsten". Lodz, den 24. Dezember 1914. Rabbiner Dr. Arthur Levy, zurzeit im Felde. Jüdische Kriegsyrobleme. i. Das Kriegsfchicksal der polnisch- galizischeu Judcnheit. Noch hat der Verlauf des Krieges nicht jenen Punkt erreicht, von dein aus sich die ungeheuren Folgen auf allen Gebieten, die er nach sich ziehen wird, einigernmßen übersehen lassen könnten. Noch liegt die zukünftige Entwicklung, wie sie dieser Krieg Hervorrufen wird, durchaus im Dunkel ver- hiillt. Wohl aber ist der furchtbare Kampf bereits soweit fortgeschritten, daß sich ein gut Teil der Zustände, die er durch seine unmittelbaren Wir¬ kungen geschaffen hat, schon jetzt überblicken läßt, und man manche der Probleme schon zu erkennen vermag, die sich aus diesen Zuständen erheben. Wenn die .fünf Monate des Krieges noch nicht daM hingereicht haben, um das posittve Resultat des Kampfes, die politische Umgestaltung der Welt, zu erreichen, so war doch diese Zeit genügend lang, um Millionen von Menschen die furchtbaren Schrecken der Kriegsfurie spüren zu lassen, um Verheerungen und Verwüstungen anzurichten, an deren Wiederherstellung Jahrzehnte werden arbeiten Müssen. Für wenig Bevölkerungsgruppen Europas — von Belgien vielleicht abgesehen — hat der Krieg in dieser Hinsicht solch' einschneidende Bedeutung gehabt wie für uns Juden. Das ttagische Ahas¬ vergeschick unseres Volkes, das durch die steten Wanderungen der einzelnen Volksteile dahingc- führt hat, daß wir in allen Staaten gerade. in den Grenzprovinzen am stärksten vertreten sind, dieses eigentümlich tragische Geschick unseres Vol¬ kes ist auch die Ursache der besonders großen und furchtbaren Wunden, die gerade uns dieser Krieg geschlagen hat. Denn stets sind es ja die Grenzländer der Staaten, die den natürlichen Schauplatz der Kämpfe bilden. •> Diejenigen zwei Länder,, in denen der Kampf heftiger als auf allen anderen Kriegsschauplätzen getobt hat: Polen und Galizien, sind die Hauptsitze der osteuropäischen Judenmassen, r-o ist es nur natürlich, daß die nach Millionen zäl^ ' '*"V |