Seite 2 freie Tribüne Aaßtrcfettt war unserem Bfotte dte Aufgabe gestellt, die fevoftttioftäfeti Teile unserer iriterttfri- torialen Bewegung zu vereinigen, ihnen irrt Streife gegen den Opportunismus ein Sprachrohr tu schaf¬ fen. Daß säm um unser Organ stet» wachsende Gruppen unserer Bewegung in allen Ländern grup¬ pieren, daß es uns vergörirrt ist, der Zentralstelle zur Mobifisierung aller revolutionären poaleziotii« stischcn Kräfte ein Waffenarsenal zu bieten, darf um als Frucht unserer Arbeit Gelegenheit zu stolzer Freude bieten. So wird Wien wieder ein geistiger und orga¬ nisatorischer Mittelpunkt unserer Weltbewegung. Oer „Freien Tribüne'* aber Itegt es' ob, da sie jetzt in das! zweite Jahr ihrer Existenz tritt, mit gereifter Kraft ihren Namen bewähren und auch ferner die freie Tribüne zu sein, von der alle, frei sich regen¬ den Gedanken innerhalb unserer T3ew-egung und des allgemeinen Sozialismus 1 kühn verkündet werden »ollen. Authentischer Bericht der russischen So wjetalogienmg I. Die erste Hälfte des Jahres 1919 ist durch Juden¬ pogrome in den Randgebieten Sowjetrußlands — dem Schauplatz des Kampfes mit der Konterrevo¬ lution — gekennzeichnet. Der Rückzug wie der An¬ griff der konterrevolutionären Banden, die Auf¬ stände der Weißgardisten, ihre Erfolge und Mißerfolge sind immer von Jtidentnetzeleien begleitet. Diese Erscheinung ist nicht nur für eine bestimmte konterrevolutionäre Gruppe charakteristisch. Sie ist allen eigen. Die Juden des Dongebietes, der Krim und der Ukraina, Litauens und Weißrußlands, Esthlands und Kurlands, ja sogar Sibiriens und des Uralgebietes, alle haben sie die blutigen Schrecken der Pogrome in gleicher Weise erfahren. Ueberall haben die Pogrome einen streng organi¬ sierten Charakter, überall werden sie von den Machthabern vorbereitet. Deshalb sind sie im allgemeinen einander ähnlich und unterscheiden sich voneinander nur nach dem Charakter der örtlichen Macht. Noch ist die Periode der Pogrome nicht vor¬ über. Die Berichte, die über die Front kommen, erreichen uns mit großer Verspätung. Die Einzel¬ heiten vieler Pogrome sind uns bis jetzt noch unbe¬ kannt. Dennoch gibt das zur Verfügung stehende Material auch in dieser unvollständigen Form ein Bild, das unser Blut vor Entsetzen erstarren macht. Vor allem müssen wir bei den Pogromen ver¬ weilen, die von den polnischen'Legionären organisiert wurden. Der Zahl ihrer Opfer nach nehmen sie nicht die erste Stelle ein. Aber ihre Einförmigkeit beweist ihren offiziellen Charakter. Sie wurden alle nach ein und demselben, augenscheinlich vorbereiteten Plane durchgeführt Die größten Pogrome in den von den polnischen Truppen okkupierten Gebieten haben in Brest, Minsk, Lida und Wilna stattgefunden. Am 11. Februar 191*1 besetzten die polnischen Heere Brest-Litowsk. Am nächsten Tage, dem 12., beginnt der Judenpogrom. Die Legionäre überfielen die jüdischen Stadtviertel umzingelten sie, und eine allgemeine Plünderung der jüdischen Wohnungen und Magazine beginnt. Wie immer in solchen Fällen erscheinen zu Beginn des Pogroms Marodeure, durch leichte Beute und vor allem durch Aussicht auf Straflosigkeit angelockt. Aber ihre Hoffnungen werden betrogen. Die Legionäre haben das P 1 ü n d e- rungsrecht monopolisiert und überlassen den Marodeuren nur die schmutzige Arbeit, die un¬ glückliehen Opfer zu morden. Fast alle Wohnun¬ gen und Magazine der jüdischen Stadtviertel wurden ausgeraubt. Es gab viele Tote und Verwundete. Die genaue Zahl derselben festzustellen, ist uns nicht gelungen. Ueber 100 jüdische Mädchen wurden vergewaltigt. Hauptsächlich hat die arme Bevölkerung gelitten — eine ge¬ wöhnliche Erscheinung; den wohlhabenden Juden gelang es, zu entkommen. Am zweiten Tage des Pogroms wurde eine Razzia in den Straßen ver¬ anstaltet. Die Juden, hauptsächlich Greise, wurden eingefangen und auf einen Platz gebracht, wo die „Exekution" unter den Klängen eines Bläser¬ orchester s stattfand. Hierher wurde auch der städtische Rabbiner gebracht, der dem Schauspiel beiwohnen mußte. Viele der Gemarterten verloren d en Verstand oder starben unter den Peitsch en¬ tliehen Als der Pogrom sich seinem Ende näherte, wurde von den Behörden eine Konferenz der Vertreter der Gewerkschaften zur Beratung von Maßnahmen zum Kampfe gegen die Judenpo¬ grome einberufen. Der größte Teil der Ver¬ sammelten bestand aus Juden. Sobald die Ver¬ sammlung eröffnet war, wurde das Gebäude von allen Seiten vom Militär umzingelt und das Morden begann von neuem. Der größte Teil der Ver¬ sammelten w u r d e g e t ö t e t und die übrigen zu Zwangsarbeiten verschickt. Eine ähnliche Provokation kam in Pinsk vor. Darüber berichten die „iswestija des Kiewer Sowjets", in der Nummer vom 26. April, folgendes: .ggf* Sammelt fäf dei In Pfftsk fand im Ziomstenklub, übet Vorschlag d*s polnischen Irtstruktofs, eine Versammlung der Mit¬ glieder def jüdfaeftert Konsumgenossenschaften zur Beratung der Frage ihrer Vereinigung statt. Der Ittstrufctof stellte den Antrag und verließ sogleich die Versammlung. In den Saal stürmten polnische Legionäre und schlügen auf die Versammelter» ein, ohne Frauen und Greis.* zu schonen. Alle Verhafteten wurden auf den Klosterplatz gebracht. Hier wurde eine Gruppe von 37 Menschen abgesondert, die an Ort und Stelle erschossen wurden. Die übrigen Verhafteten wurden gezwungen, die Leichen fortzuräumen und eine Grube für die Hingerichteten zu graben. Nach einigen Tagen wurde ein Befehl des Majors Lutschinsky veröffentlicht, in dem es hieß, daß zwei boschewikische Meetings überrascht worden seien, die unter der Genossen¬ schaftsflagge einen Aufstand gegen die polnische Macht zu organisieren versucht hätten. Zur Unter¬ suchung dieses Vorfalles traf eine ausländische Dele* gation, aus zwei französischen Offizieren bestehend ein. Die terrorisierte jüdische Bevölkerung hoffte anfangs, daß dte Ausländer ihre Lage ein wenig erleichtern wüden, wurden aber bald enttäuscht, da die polnischen Legionäre nicht verfehlten, alle Juden zu registrieren, die sich an die „ Ausländer" wandten, um Aussagen zu machen. Nach der Abreise der Delegierten, wurde ein Befehl des Oberkomman¬ dierenden der polnischen Heere, General Listewski, bekanntgegeben, in welchem dem Major Lutschinski für die Rettung der polnischen Heere vor den bolsche¬ wikischen Juden der Dank ausgesprochen wird; gleich¬ zeitig wurde der jüdischen Bevölkerung eine Kon¬ tribution von 100.000 Rbl. auferlegt, die obligatorisch in Zarenrubeln entrichtet werden mußten. Unter den von den polnischen Legionären erschossenen 37 Per¬ sonen befinden sich auch die PoaleZion: Mednik, Ljukowski, Liebmann, Silbermann, Sankovski, Stein¬ berg; zwei Bundisten, Setzmann und Gleibermann, sowie die beiden Brüder Friedmann, Waldmann, Heckelmann und Rusnez. Nach der Einnahme von Pinsk wurde dem Vor¬ rück e. n der polnischen Banden Einhalt getan. Die ,wirklichen Pogrome 14 mußten einst¬ weilen eingestellt werden. Zum Zeitver¬ treib nur beschäftigten sich die polnischen Legio¬ näre damit, die Juden in den kleineren Städten und Dörfern totzuschlagen. Aber bald unternahmen die Polen wieder einen ernsten Angriff und besetzten die Stadt Lida im Gouv. Wilna (16. April ). Die Heere rückten frühmorgens in die Stadt ein. Sofort begann, wie es sich gehört, der Judenpogrom. Vor allen Dingen begannen sie die Efewöhner der zentralen jüdischen Stadtteile ztr wecken," andern sie Handgranaten und Bomben in die Häuser warfen und sich wie rasend auf die entsetzten Bewohner stürzten und alle, die ihnen unter die Augen kamen, mißhandelten, die des „Bolschewismus" Verdächtigen erschossen. (Minsk, Svvesda, 25. Mai.) Darauf zogen die Legionäre in die von Juden bewohnten, abgelegenen Stadtteile ab. Eine allgemeine Durchsuchung der jüdischen Häuser wurde vorgenommen, angeblich zur Aufspürung von Kommunisten, in Wirklichkeit aber nur zwecks Plünderung. Ein richtiger Pogrom begann. Alle jüdischen Häuser, Buden und Speicher wurden völlig ausgeraubt. Daneben fanden grausame Mißhandlungen und sogar Morde statt. Ein Jude wurde deshalb erschossen, weil er bat, daß man ihm seinen Mantel nicht nehme. In einem Hause trafen die Legionäre nur ein Kind. Auf die Frage, wo der Vater sei, antwortete es, daß es dies nicht wisse. Darauf begannen die Legionäre das Kind zu foltern: sie zündeten Stroh an und brieten das Kind an dem Feuer, damit es angebe, wo sich sein Vater versteckt hielt, es starb unter den Händen seiner Folterer. Der Pogrom dauerte drei Tage; während dieser Zeit wurden 150 Juden, darunter S Kommunisten, getötet (Minsk, Swesda, 24. Mai). Aber alle diese Pogrome in Brest, in Pinsk und Lida verblassen vordem Pogrom in Wilna. Er begann am 19 April, sofort nach dem Einrückender polnischen Heere in die Stadt. Die jüdischen Stadt¬ teile wurden von den Truppen umzingelt und Durch¬ suchungen und Plünderungen unterworfen. Fast ikei' 1 jüdisches Haus entging dem. Die Juden wurden aus den Häusern gezerrt und mißhandelt. Viele wurden verhaftet, noch' mehr erschossen oder zu Tode ge¬ martert. Die Räubereien und Mordtaten wurden aus¬ schließlich von polnischen Legionären ausgeführt. Zivile Räuber wurden fenigehalien. Ihnen war es freigestellt, die .Verhafteten mit Steinen zu trak¬ tieren und die Leichen zu schänden. Fast der ganze jüdische Stadtteil wurde verwüstet. Die Unglücklichen wurden ohne Wahl mißhan¬ delt: Kranke, schwangere Frauen, Greise und Kin¬ der. Wir 'haben eine 'kleine Lis ! te der Getöteten vor uns; 55 Namen von 1600 (s e ch z e h nhu n d e r t). (Folg-t eine Namens-liste.) Von diesen 55 Getöteten sind zwölf, d. h. über zwanzig" Prozent, G reis; e u n cl ü n in, ü n d i g e. Und wievie(> Frauen sind darunter? Die Ermordun¬ gen waren von .Verhöhnungen und unglaubliche 11 Graii&amkeifen begleitet, über die ein (ganzer Haufen von Berichten vorliegt. Gleichzeitig mit den Juden wurden auch die Christen mißhandelt, die für sie eintraten. Erst am n 5000 Kronen-Fonds dei 22. 'Apffl. & ft. ai»{Vfo.fltf n Tage 4m Pogrönm, wurde der BefeM zur Eittsüetfung der Plünderung erteilt. Aber er nahm noch) imttter kein Ende. Er wufdfe erst affii 20. und 30. April sÄvädher, afe die Sowjetfteere didrt an die Stadt herankamen, was' eine unglaub¬ liche Panik unter den Polen hervorrief. Aber er wurde, wenn auch weniger intensiv, bis z'uni! 2. Mai 'fortgesetzt. Da?: bewies folgende Notiz in der Wilnaer wei߬ gardistischen Zeitung „Bjeioruskije Dunski'' vom 7. Mai, (also am IS. Tage des Pogroms). „Die Kanonenschüsse sind schon lern von uns, wir hören das Maschinengewehrfeuer nicht mehr, es ist Zeit, daß die Nerven sich ein wenig beruhigen, daß Wut, Haß und Rachsucht sich legen. Sagen wir es gerade; heraus-, es ist Zeit, daß der Jude wieder auf die Straße gehen kann, ohne zu fürchten, daß ihm seiner Nase wegen der Leib aufgeschlitzt wird, die Ringe von den »Fingern gezogen wer¬ den und da-:. Geld forlgenoimucri wird." Die Wilnaer jüdische Cfemeimie veröffentlicht einen Protest gegen die in Wilna stattgefundenen Grausamkeiten. Wir führen den charakteristischen Aufzug aus diesem« interessanten Dokument an. „Die jüdUche Bevölkerung der Stadt Wilna ist durch die Verfolgungen, Plünderun¬ gen und Morde, die stic am' J7. A.prit und an den folgenden Tagen übersieh ergehen lassen mußte, stowie durch' ihre unaufhörliche Ter- roriaierung erschüttert. Viele unschuldige Ju¬ den aus) der friedlichen Bevölkerüng, die mit dem Kampfe der polnischen Heere gegen die Bolschewiki absolut nichts gemein hatten, sind ohne Gerich* und Unterschied des Ge¬ schlechts und Alters bei sidh zu Hause ; oder auf der Straße auf die grausamste Weise mißhandelt worden. Taugende jüdischer Woh¬ nungen sind ausgeraubt, der größte Teil der jüdischen Bevölkerung ist ruiniert worden. Tausende unschuldiger Juden, unter ihnen viele -hervorragende "Persönlichkeiten und be¬ kannte Stützen der Gesellschaft, sind ohne jeden Grund verhaftet, mißhandelt und ins Gefängnis' geworfen worden, wo sie ohne Essen und Trinken gehalten werden und den schwersten Beleidigungen ausgesetzt sind. Ein bedeutender Teil : dieser Juden ist ohne Unter¬ suchung und Gericht nach Lida gebracht, dort neuen, fürchterlichen körperlichen und seeli¬ schen Mißhandlungen ausgesetzt, darauf .in unbekannter Richtung verschickt worden. An¬ dere Gruppen der (verhafteten Juden sind ohne B-eweis irgend einer Schuld zur .Verbannung und Internierung verurteilt worden, ohne daß ihnen die Möglichkeit gegeben worden wäre, ihre Unschuld zu beweisen. Diese- .Vorfälle haben noch kein Ende genommen, als- die jü¬ dischen .Vertreter die ■Behörden davon "in Kenntnis' gesetzt hatten, was in der Stadt vor¬ ging. Unter der Bevölkerung entstand die Ueberzeugung, daß alle Juden für außer- h'a 1 b d e *i G e setzes stehend erklärt wor¬ den seien und daß jeder mit ihnen machen könne, was ihm einfällt. Dies bereitete den Boden für die antisemitische Tätigkeit und die Provokateure vor, die die Bc schuld ig un- gen gegen die Juden auszunutzen und einen Grund suchten, unv alle Juden für die bolsche¬ wistische Politik verantwortlich zu machen, ungeachtet dessen, daß in der bolschewisiti* 'sehen Regierung die höheren Posten nicht von Juden besetzt waren. Die jüdische Gemeinde in Wifna legt stdharfen Protest ein .gegen die Mißhandlungen, die die jüdische Bevölke¬ rung in den letzten Tagen durchmachen mußte. Als. die Nachricht von dem Wilnaer Pogrom in die Sovvjetpres.se gelangte, dementierte ihn die polnische Regierung energisch und erklärte, daß in. Wilna während der Einnahme der Stadt durch die polnischen Heere keinerlei Exzesse stattgefunden hätten. Nach diesem' offiziellen Dementi beriefen die polnischen Behörden die .Vertreter der jüdischen Gemeinde zu sich und förderten von ihnen eine Be¬ scheinigung darüber, daß in Wilna kein Pogrom stattgefunden habe. Die .Vertreter der Gemeinde I eh n t e n u b, eine siolche B e s ch e i n i g u u g zu geben und wurden verschickt. Doch war es unmöglich, den Pogrom wegzuleugnen, und es mußte daher irgend eine Rechtfertigung ersonnen werden, wonach" sie den polnischen Truppen be¬ waffneten Wiederstand geleistet hätten, was die tapferen polnischen Krieger erbittert habe, daß sie nicht zurückzuhalten waren. t>er größte Teil der Juden seien Bolschewik! und die Erbitterung der Soldaten sei so selbstverständlich. Es lohnt sich kaum, sidh bei dieser Rechtferti¬ gung aufzuhalten. Acht jährige Kinder, 60-jährige Greise, Typhuskranke, leisteten „bewaffneten Wi¬ derstand". . . .! Nachdem der Waffenstillstand zwischen der En¬ tente und Deutschland geschlossen war, wurde den polnischen Armeekorps des Generals- Haller ge¬ stattet, durch Deutsichrand in die Heimat zurückzu- „Freien Tribüne". <3&g& |