SEITE 2 FREIE TRIBÜNE NR. 18 Der Tag des internationalen Kampfes. Der 1. Mai (1920) neunzehnhundertundzwanzig. Er soll f*;e Grenze zwischen zwei Welten, die Schwelle zwischen gestern und morgen bilden. Gestern noch pechdunkle Nacht in den Hirnen der Arbeiter, morgen das befreiende Bewußtsein der so¬ zialistischen Erlösung, gestern die unbegrenzte Herr¬ schaft des Diktators Kapital, morgen die Herrschaft der Arbeit, deren Größe darin besteht, daß sie die Mensch¬ heit von jeder Knechtschaft befreit. Gestern der mörderische Krieg zwischen zwei Völ„ kern, heute der letzte heilige Klassenkampf aller schaf¬ fenden, werktätigen Menschen gegen die Parasiten der ganzen Welt. Und der erste Mai rieunzehnhiindertundzwanzig soll der Tag des internationalen Kampfes sein: Die Weltrevo¬ lution gegen den Weltimperialismus, Arbeit gegen Kapital. Nicht um einzelne, kleinere oder größere Zugeständ¬ nisse zu erringen, kämpfen jetzt die Proletarier der Welt. Nein! Die heißeste Schlacht ist jetzt entbrannt und der Kampf wird das Endziel erzwingen. Ueberall fordern die Arbeiter die Sozialisierung dier wichtigsten Produktionszweige. In den Ländern, in wel¬ cher der imperialistische Vernichtungskrieg die Produk¬ tion nicht zerstört hat, in England, Frankreich wird der Kampf zwischen Arbeit und Kapital in der Form von Lohnforderungen geführt, aus welchem aber ständig die tiefe Sehnsucht des Proletariates spricht, welche lautet: Kein Friede, ehe nicht die ganze Produktion in die Hände des arbeitenden Volkes übergegangen ist. Nationalisierung der Kohlengruben, Elektrizitäts¬ werke und Transportmittel ist die Losung, unter welchen in den siegreichen Ländern der Kampf für die Weltrevo¬ lution geführt wird. ; ' Auch m Amerika bricht ein oekonomischer Streik nach dem anderen aus und, obwohl man -nichts von bestimmten sozialistischen Forderungen hört, beweist schon der unbarmherzige Kampf, den dort das Proletariat gegen das Kapital führt, daß die Streiks eine tiefere, grundsätzliche Bedeutung haben. Die „demokratische¬ ste" Regierung mit ihrem 1 Friedensapostel an der Spitze, ist nicht nur gezwungen, nach zaristischem Beispiel die Kommunisten zu verschicken oder einzusperren, son¬ dern sogar die sozialistischen Abgeordneten aus denn Parlament hinauszuweisen. Das hindert natürlich de„ Oberpriester der bürgerlichen Demokratie nicht, von Sowjet-Rußland die Einberufung des demokratischen Par¬ lamentes zu fordern. t 1 Und alle kleineren kapitilisijjschen Länder zeigen dasselbe Bild: Gemischte Koalitionsregierungen der Bür¬ gerlichen und gleichzeitig unaufhörliche Streiks, öko¬ nomische und sozialistische. Es ist immer der gleiche Kampf zwischen Arbeit und Kapital. { Aber nicht nur im reinen Klassenkampf spiegelt sich die Krisis wieder, in der sich die kapjtaljstjjiche Wirtschaft befindet. Alle Kräfte, welche nach Fort¬ schritt streben, fühlen die Unmöglichkeit, ihr Leben im kapitalistischen Gefängnis weiterzuführen. Unbewußt, ehe sie noch die letzte Stufe des iSeibst-, respektive Klassenbewußtseins erreicht haben, stürmen sie die Fe¬ stung auf ihre eigene Methode. Der große, unaufhörliche nationale Kampf der Irländer gegen ihren imperialisti¬ schen „Protektor", England 1 , das Anwachsen der natio¬ nalen Bewegung im nahen und fernen Ostern, (sin^ Symptome des kommenden, vollständigen Bankerottes der imperialistischen Politik. Und wie erst in Zentraleuro¬ pa! In den Ländern, in welchen der Krieg die ganze Kraft aus dem Körper der Volkswirtschaft gezogen hat, in den Ländern, wo der Kapitalist bankerott ist, dort besteht die Revolution in Permanenz. Deutschland. Dort ist der Kampf um die proletarische Diktatur die aktuelle, die Tagesfrage. Jede Krisis, jeder große Streik, jede Bewegung von rechts oder vjinks rollt sofort aufs Neue die Frage auf: Demokratische Republik oder proletarische Diktatur. Ebenso ist es in Deutschösterreich'. In diesen Ländern hat nämlich der Kapitalismus eine Stufe erreicht, in der er die Kraft für eine progressive Entwicklung vollständig verloren hat. Die Arbeiterklasse empfindet es einstweilen noch unbe¬ wußt, daß jeder Versuch, die Länder auf kapitalistischen Grundlagen wieder aufzubauen, die finstere, unverhohlene Diktatur der Bourgeoisie bedeutet. Deswegen befinden sich diese Länder in chronischem revolutionärem Kampfe. Ein großes, wichtiges Ereignis, das der Arbeiterschaft die Richtigkeit ihres Empfindens ins Bewußtsein bringt und die proletarische Revolution ist da. , Zwischen dem revolutionären Vulkan Mitteleuropas und dem einzigen proletarischen Staate liegt eine aB nze Reihe sogenannter „befreiter" Völker. Nicht im schweren Kampfe gegen ihre Bedrücker haben sie ihre Freiheit erfochten... Bei weitem nicht! Sie sind ,im (großen Kriege zwischen beiden feindlichen imperialistischen Mächtegruppen so lange hin und her geschwankt, bis sie verblieben sind... in den Ketten der „befreienden" Sieger. Diese kleinen Völker sollen die Scheidewand zwi¬ schen der siegreichen proletarischen Revolution in Ru߬ land und der kämpfenden deutschen Arbeiterschaft sein. Auf diese Art sollen sie wenigstens für eine Zeit lang den Siegesmarsch der sozialen Revolution aufhalten. Rußland: Hier erlebt die Arbeiterklasse die Ge¬ burtswehen der n^uen sozialistischen Gesellschaft, hier sucht das Proletariat und findet neue Formen des sozia¬ listischen Schaffens. Hier wird alles verwirklicht, nach dem wir Jahrtausende hindurch gestrebt, um das wir Jahrzehntelang gekämpft und für das wir seit 30 Jahren am ersten Mai gefeiert haben. Und so gebiert die alte verfluchte Welt eine neue, glücklichere Zukunft. Der erste Mai 1920 kann und soll die Grenze zwi¬ schen zwei Welten werden. — * Wenn noch irgend ein Zweifel obwalten konnte, ob die Losung der III. Internationale für den 1. Mai 1920 „Frieden» mit Sow(etrufiIand" die einzig richtige war, so hat der soeben begonn^e große Angriff der polni¬ schen gegen die Rote Armee, diesen Zweifel restlos zerstreut. Die polnische Offensive gegen Sowjetrußland bedeutet, wie es der sie begleitende Jubel der bürgerlichen Presse offenbar macht, der vereinigte Versuch aiFer Ausbeuter der Welt den einzigen sozialistisch regierten Staat zu vernichten. Deshalb ist es heilige Pflicht der Ausgebeuteten aller Länder, diesen Versuch im of¬ fenen Kampfe abzuwehren. Die Proletarier Englands, Frankreichs und Amerikas, deren Regierungen die polnische Armee ausgerüstet und zum Angriff vorgeschickt^ SiiabeiH, müssen dem Gaukel¬ spiel ihrer Regierungen von wirtschaftlichen Beziehungien durch Verhandlungen in Kopenhagen und kriegerische Handlungen durch eine polnische Offensive mit aller Kraft ein Ende machen und dadurch den: Bestand Sowjet¬ rußlands sichern. r \ ■ Wir Deutschösterreithische Proletarier dürfen am 1. Mai 1920 keinesfalls vergessen, daß die gemeldeten, unserer Ueberzeugung und unserer Hoffnung nach er¬ logenen Siege der polnischen. Soldateska mit den durch deutschösterreichische Proletarier erzeugten und durch unsere glorreiche Koalitionsregierung an Polen gelieferten Waffen erfochten worden sind. MäSchtig muß die deutsch- österreichisjche Arbeiterschaft ihre Stimme erheben und unserer Regierung zurufen: Schließt Frieden mit Sowjet- rußland. „Sozialer Frieden". Nun geht man ernst daran, Bilanz zu machen, wirt¬ schaftliche in Wien in der Nationalversammlung, politi¬ sche in Linz auf der Länderkonferenz. L : Zwei Probleme waren es, die zu lösen die Koalition „berufen" war. Die Not des Volkes zu lindern und aus den Trümmern des alten Oesterreich das junge, neue Deutschösterreich zu schaffen. Wirtschaftlichen Aufstieg und demokratische Verfassung verhieß uns die Koalition, Nun heißt es rechnen. \ Die Not. Wer will sich einer Zeit erinnern in der die Not erdrückender auf den breiten Massen des Volkes lastete, als jetzt. Wer kann die Zeit 'nennen, in der die Klassengegensätze auf wirtschaftlichem, oekonomi- schem Gebiet krasser und schärfer zum Ausdruck kamen, als jetzt. Wer vermag vfon „sozialem Frieden" zu träu¬ men in einer Zeit, in der tolle Genußjsucht und grau¬ samstes Elend hart beieinander wohnen. Unser unvergleichlicher Staatskanzler ist es, der der Arbeiterschaft den sozialen Frieden predigt. Sozialer Frieden. In einer Stadt, in der Hundertau¬ sende Männer, Frauen und Kinder von Almosen die un¬ würdigste Existenz fristen, dabei aber zusehen müssen, wie eine kleine Schicht aus dieser unermießKchen Not unermeßlichen Gewinn und Reichtum häuft; in einer Stadt, in der amerikanische Ausspeisehallen luxuriösen Nachtlokalen angereiht sind; in der ein Kilogramm Kar¬ toffel 15 Kronen; eine Flasche Champagner 300 Kronen kostet und dabei jede Nacht ebensoviel Flaschen Cham¬ pagner fließen, als Hunderte Proletarierkinder hungrig zu Bette gehen; in einer Stadt, in der sämtliche Proleta¬ rierwohnungen in tiefes Dunkel gehüllt und in sämtlichen Palais Festgelage abgehalten werden, Li der jedem Rei¬ chen 4 bis 5 sonnige Zimmer zur unbeschränkten Be¬ nützung zur Verfügung stehen und gleichzeitig 4 bis 5 Proletarier in einem feuchten finsteren Raum hausen müssen; in einer Stadt, in der ein Paar „bälliger" Schuhe 900 Kronen kostet, in der 90 Prozent der Bevölkerung die billigsten Bekleidungsstücke nicht erstehen könpen, während die restlichen 10 Prozent der Bevölkerung in Seide, in Pelz, ja in Gold gehüllt sind; iri einer solchen Stadt, in der Massensterben und Reichtum, Hunger und Genußsucht aneinander stoßen, von „sozialem Frieden" zu r e den — wer wäre kühn genug, die Leiden des Vol¬ kes derart zu verhöhnen, wer wäre gemein genug, der tollgewordenen Bourgeoisie Weihrauch zu spenden? Unser unvergleichlicher Staatskanzler. Er sprach von sozialem Frieden zu eineir. Stunde, als der Eisenbahner¬ streik noch nicht liquidiert war und der Streik der Indu¬ striebeamten bereits begonnen hatte; er empfahl den sozialen Frieden, den in zweihundert Luxusautomobilen am Schwarzenbergplatz zum Kriegsrat aufgefahrenen In- dustriegrafen und den vor dem Parlament demonstrie¬ renden verhungerten zwanzigtausend Industriebeamten!. Wer will der Koalition geschichtlichen Sinn ab¬ sprechen. Hat sie doch selbst den Sozialdemokraten Renner, der im Kriege bereit war, das Proletariat für den Schienenstrang Podwoloczyska—Triest tapfer fechten zu lassen, zum Friedensapostel gemacht. Kautsky hatte es ihm prophezeit: „Kriegsmarxismus" mündet immer im „sozialem Frieden". Wie schade, daß Friedrich Adler die „Friedensidylle" durch die unzarte Erinnerung an die 20.000 Stahlhelme, die der Horthy-Armee, an die Waffen, die den Polen geliefert wurden, gestört hat. Allerdings verstand er ^s die Schuld dieser Lieferungen... den Beamten der Sachde- mobilisienwg fn die Schuhe zu schieben. Immerhin kann es dem „reinen Tor", der in der „Arbeiter-Zeitung" gegen die grausamen Mordtaten Hor- thys ehr lieh und mannhaft kämpft, einmal pas¬ sieren, daß ein ermordeter ungarischer Sozialdemokrat seinen Schlaf stört und ihm in der Nacht das Stahl zeigt, mit dem er ermordet wurde und auf dem die Worte: „Wiener Arsenal" zu lesen sind.*) Das ist eben der Bürgerkrieg, den Dr. Renner „verhindert" hat. Ueberhaupt scheint es, daß Friedrich Adler diesmal es darauf abgesehen hat, den Staatskanzler zu ärgern. Was der eine lobt, tadelt der andere; was der eine bejaht, negiert der andere. Der Sozialdemokrat Friedrich Adler verlangt die Vermögensabgabe, vor der Ver¬ fassung. Der Sozialdemokrat Renner erklärt, Ver¬ mögensabgabe und Verfassung werden im gleichen Schritt durchgeführt werden. Aber das gehört ja zum Kapitel „Parteifrieden". tMit der Vermögensabgabe steht es aber heutzutage so: wenn eine durchgreifende hohe einmalige Abgabe vor einem Jahre, ja noch vor einem halben Jahre, eine nen¬ nenswerte finanzielle Gesundung und dadurch auch eine fühlbare Milderung der wirtschaftlichen Not bringen konnte, so ist diese Maßnahme heute kaum mehr ge¬ eignet, die, ihr zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Es ist ja kein Geheimnis, daß ein sehr bedeutender Teil der zu erfassenden Werte inzwischen spurlos über die Grenzen verschwunden ist. Uebrigens hatten die Vermögenden Zeit und auch die Mittel, die im Lande befindlichen Werbe teilweise zu verschleiern und zum andern Teile zu ent¬ werten. | , Und doch sollte man endlich einmal ernst machen und die Bourgeoisie zwingen, wenigstens einen Teil der Last zu tragen. {Wer kann sagen, ob unsere „Regierung der Volks¬ beauftragten" hiezu die Kraft aufbringen wird. 0 , Heischen doch schon die Christlichsozialen für die Bewilligung der Vermögensabgabe die Bewilligung der... Bundesverfassung. Bundesverfassung. Noch immer weiß keiner wie diese aussehen soll. Wohl träumt der Staatskanzler von einer „östlichen Schweiz' 1 , Allein die Schweiz und deren Verfassung ist nicht im sozialen Frieden, sondern im kühnen Bürgerkriege gehämmert und geschweißt worden. So schließt die Bilanz der Koalition ohne den wirt¬ schaftlichen Wiederaufbau, ohne eine demokratische Staatsverfassung mit der großen unermeßlichen Not der Arbeiterschaft. Nun spricht man von Neuwahlen. Das Volk soH entscheiden. < 1 Bevor aber die Arbeiterschaft ihr Urteil fällt, muß sie zwei Dinge wissen: (Werden die Sozialdemokraten, wenn das arbeitende Volk für sie entschieden haben wird, bereit '.sein, im alleinigen Interesse der Arbeiterschaft zu h a n d e In? IWie, wenn das Kräfteverhältnis der Stimmzettel unverändert bleibt, — werden sie weiter den sozialen Frie¬ den predigen und dadurch die Not, die Verzweiflung der Arbeiterschaft mehren? *) Das wahre Antlitz sozialdemokratischer Koalitionspolitik. Judenausweisungen. „Für Völkerverbrüderung" heißt es im Maiaufruf der österreichischen Sozialdemokratie. Und zur selben Stunde schnüren hunderte jüdische Arbeiter und Ange¬ stellte ihr Bündel, die nach Einholung des Gutachtens, der Gewerkschaften, daß in dem betreffenden Zweige Arbeitslosigkeit herrscht, unter der Äegide eben der¬ selben Sozialdemokraten aus dem Staate, dessen „Staats¬ bürgerschaft" sie nicht besitzen, ausgewiesen wurden. Nicht die Heuchelei aber, die in dieser Gleichzeitg* keit liegt, sondern die Tragik einerseits im Schicksale ihrer Objekte, anderseits im Zwange der Sozialdemo¬ kratie zu eben dieser Heuchfelei, regt uns zu diesen; Zeilen an. Zu Tausenden waren die jüdischen Einwohner dies Kriegsgebietes vor den Greueln des Krieges, den dro¬ henden Pogromen der Kosaken geflohen. In Viehwaggoaie gepfercht wurden sie abtransportiert, anfänglich natür¬ lich direkt in die großen Städte. Jung und alt, arm und reich, waren geflohen und während die Arbeiter wieder in ihrem Fach Arbeit suchten, krochen die „Luftmen- schen'" wieder in die „Lücken der Produktion", schoben sich zwischen Produzent und Konsument, hängten sich an die Waren, um möglichst viel des arbeitslosen Mehr¬ wertes, des Händlerprofites abzuschöpfen. So lebten sie als echte Parasiten von der produktiven Arbeit (des Proletariates, dessen Not überdies von Tag zu Tag wuchs. Die Waren wurden immer seltener-, der Händ¬ ler immer mehr, an jedes Stück Ware hängten sich zehn, zwanzig Existenzen, die von deren Preissteigerung- zehren wollten, ehe sie den Konsumenten erreichten. Und mit derselben Notwendigkeit, mit der sich ..der Haß der „Wirtsvölker" noch immer an die Fersen des schmarotzenden, keine Werte erzeugenden „Volkes der Händler" geheftet hat, trat er hier mit der dem Wachstum des Elendes gleichen Schritt haltenden Er¬ bitterung auf. Dies die Tatsache. Dem objektiven Kopf enthüllt sich zwar die Tragik, die in diesem ökonomischen Cha¬ rakter so großer Teile eines Volkes liegt, ihrer Trennung von der Urproduktion, ja der alle Werte schaffenden Produktion überhaupt, die Tragik, daß die Bereicherung in größerem Maßstabe, die doch nnur einzelnen gelingt, mit dem „Ewige Jude"-Dasein aller übrigen, dem ewi- |