12 MENORAH DIE BIBLISCHE GESTALTEN WELT MICHELANGELOS Von JOSEF CARLEBACH Illustrationen nach den Fresken in der Sixtinischen Kapelle (Rom) Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts wurde Michelangelo, damals schon als erster Meister der Plastik anerkannt, nach Rom berufen. Er erhielt vom Oberhaupt der katholischen Kirche den Auftrag, das gewaltige Spiegelgewölbe der sixtinischen Kapelle, der eigentlichen Gebetstätte des Papstes, mit den Bildern der Schöp¬ fer des Christentums, der Apostel und der ersten Inhaber des römi¬ schen Stuhles zu schmücken. Widerwillig ging der Künstler ans Werk. Sogar durch die Flucht suchte er sich seinem Auftraggeber zu entziehen; allerdings vergebens. Vom Frühling 1508 bis zum Herbst 1512 hielt die Arbeit ihn dann in Atem. Weltabgeschlos¬ sen, einsam, ging er daran. Auf hohem Brettergerüst mußte er, auf dem Brücken liegend, die Freskogemälde auf den feuchten Kalk auftragen. Als das ungeheure Werk vollendet war, das größte der Malerei aller Zeiten, da war es inhaltlich etwas ganz anderes gewor¬ den, als was man erwartet hatte: vom Neuen Testament, von Päpsten und Aposteln keine Spur; statt dessen eine grandiose Kom¬ position zum Alten Testament: die Weltschöpfung, die Urge¬ schichte der Menschheit, Gestalten des Patriarchen und des davi¬ dischen Königshauses, große Rettungsereignisse der jüdischen Ge¬ schichte (die eherne Schlange, David und Goliath, Hamanns Tod, Judith) und vor allem und allem — die Propheten. Was hat, so fragen wir, den genialen Künstlerphilosophen, den ideengewaltigen Stoffbildner zu der eigenmächtigen Abände¬ rung seines hohen Auftrages veranlaßt? Mutet es doch wie eine Ironie der Geschichte an, daß in dieser vornehmsten Kapelle des Papsttums sich eine so auffällig jüdische Bilderfülle entfaltet? Offenbar mußten diese Gestaltengruppen für Michelangelo etwas Besonderes, etwas Persönliches, innerlich Verwandtes bedeuten, wenn er den Zorn des allmächtigen Herrn der Christenheit wagte, um in seiner Konzeption eigene Wege zu gehen. Welche Werte, welchen Symbolausdruck bedeutet diese jüdisch-biblische Welt dem Denkermaler von Rom, dem Vollender der Renaissance? Wenn wir heute die ewigen Schöpfungen der Sixtina ver¬ stehend erfühlen wollen, so ist dies ohne ein genaues Studium der Bibel selbst unmöglich. Justi*) , der wohl die tiefschürfendsten Deu¬ tungen aller Einzelheiten jenes Deckengemäldes gegeben hat, muß seinen Lesern bei jeder Figur eine ausführliche bibelexegetische Einleitung vorausschicken, ehe er den Vollgehalt der hier zu An¬ schauung gebrachten Gedanken darstellen kann. Ich möchte glau¬ ben, daß sogar der größte Kenner der heiligen Schriften aus Michelangelos Werk geradezu ein vertieftes Verständnis der Offen- borungswelt gewinnen kann. Dabei ging der Meister ohne Vor¬ studien an seine Tätigkeit im Petersdom heran. Woher rührte, so fragen wir daher weiter, dieses intime Verhältnis zum Alten Testa¬ ment, diese innige Vertrautheit mit seinen Gestalten? Die Antwort auf diese interessanten Probleme führt uns auf zwei, die Florentiner Jugendzeit Michelangelos beherrschende Per¬ sönlichkeiten, die dem geistigen Leben der Arnostadt das Gepräge gaben: auf den ketzerischen Mönch Savanarola und den gläubigen Philosophen Pico di Mirandula; denn beide haben in einer merkwürdigen geschichtlichen Übereinstim¬ mung aus jüdischen Quellen geschöpft und das, was sie aus dem Kreis des Judentums in sich aufgenommen hatten, in den Vorder¬ grund des geistigen Interesses gestellt. Mit kurzen Worten ausge¬ sprochen: Der erste glaubte, in sich die altbiblische Prophetie wie¬ der erneuern zu können. Der andere war in dem Wunsche, seine neuplatonische Weltauffassung mit der Religion in Einklang zu bringen, auf die Kabbalah gekommen und ergriff leidenschaftlich ihre Lehren als den Schlüssel zur Harmonie zwischen Denken und Glauben. Als Michelangelo 1 5 Jahre alt war, erschien Savanarola in Florenz und erregte durch seine mächtige Beredsamkeit, durch die Kühnheit und hohe Moral seiner Predigt das Volk auf das tiefste. Gegen Orgel und kunstvollen Gesang, anstatt der inneren Andacht des Herzens, gegen das Heidentum der Üppigkeit und des Lasters, sogar gegen den weltlich-gottlosen Geist der antiken Kultur, gegen Anakreon und Horaz kämpfte sein flammendes Wort. So oft er sprach, ließ er zunächst aus der Bibel hebräisch vortragen, um dann an das verlesene Prophetenwort in Stil und Geste anknüpfend, sich selbst als einen Moses oder Jesajas zu bezeichnen und den Ernst und die Reinheit einer Gottesherrschaft auf Erden zu verlangen. Alle forderte er durch seine Anklagen heraus: „Ein Zeichen, o mein Gott, daß ich zu deinen Weisen gehöre, ist, daß ich jenen ein Anstoß bin; nicht von allein bin ich es, nein, Du hast mich den Toren zum Anstoß gemacht. Dies ist das größte Zeichen meiner Erwählung." Der junge Michelangelo war der eifrigste Hörer des rede¬ gewaltigen Mönches, er trank seine Worte und lebte sich durch ihn ganz und gar in den Geist der alten Propheten, in die Absolut¬ heit ihrer sittlichen Forderung, in die aufrührende Macht ihrer Predigt ein. Aber nach wenigen Jahren erlebte er dann das schreckliche Ende dieses großen Eiferers, der gebannt, gefangen¬ gesetzt, gefoltert und öffentlich hingerichtet wurde. Die hohe Tragik des Prophetenloses, das Leid der Mahner zum Guten, der Künder eines neuen Ideals prägte sich für den jungen Künstler in Savanarolas Schicksal erschütternd aus. Der Pessimismus der ANGEBL. SELBSTPORTRÄT DES MICHELANGELO *) Carl Justi: Michelangelo. Leipzig 1900 und 1909. |