Nr . 18 Vr . Vlortz ' s Wochenschrift Feuilleton . „ Besten Netheil gerecht ist . " Von Samuel Gordon . „ Und Du weinst , weil Du ein Kind verloren hast , das noch nicht einmal entwöhnt war ? Und darum wunderst Du allein am einsamen Ufer des Sees umher und ringst die Hände und schreist laut aus in der Bitterniß Deines Herzens ? Ach , wie ist doch die Jugend gesegnet in ihrer Kraft ! Siehst Du nicht , welcher Segen es ist , daß Du stark genug bist , den Kummer Deiner Seele durch die Schleusen der Augen abfließen zu lassen ? Aber bei uns , die wir alt sind , sind die Schleusen müde von all dem Weinen , und deshalb bleibt der Kummer starr , und schwer liegt er uns im Herzen , und da er so lange anhält , so wird er wie ein Theil unseres Selbst , so daß wir ihn nicht missen möchten , selbst wenn wir könnten . Darum mißgönne ich Dir Deine Thränen nicht ; damit Du aber nicht den Himmel erzürnst , und dadurch Sünde auf Dein Haupt ladest , möchte ich Dich daran erinnern , daß Gott züchtigt , wen er liebt . Mich hat er sehr geliebt . Bin ich nicht sechzig Jahre alt geworden — und ich weiß nicht wie viele darüber — und schwer getroffen worden ? Ein Kind hast Du verloren , eines , das noch nicht gelernt hatte , seine Zähne zu gebrauchen . Ich aber habe vier Kinder verloren , die längst den Gefahren des Kindesalters entrückt waren und ausgewachsen wären wie Cedern aus dem Libanon , aber der große Holzschläger , der Engel des Todes , fällte sie — zwei einzeln , und zwei auf einen Streich ; denn damals war er in großer Eile , und seine Hände thaten gar emsiges Werk . Laß mich Dir , während wir hier in der Abendkiihle sitzen , die Geschichte von meinen vier Kindern erzählen . Du aber , meine Tochter , laß Deinen Thränen freien Lauf . Einen Sohn hatte ich , der Isaak hieß — was sagte ich ? — nein , ich muß Dir zuerst von Benjamin erzählen . Er war dreizehn Jahre alt geworden , und schon begann ich unter den Mädchen der Stadt Umschau zu halten , um ihm ein Weib zu suchen . Er war wahrlich ein Kind , das die Freude seiner Mutter sein konnte , und willig nahm er die Lasten des Haus¬ haltes auf sich ; dem : sein Vater war früh gestorben , um uns allen einen guten Empfang im Paradiese zu bereiten . Und es war die Zeit der Cantonisten . Wie , Dn weißt nicht , was das bedeutet ? Ach , ich vergaß , daß Du von weit herkommst , sogar von jenseits der Grenze , und daß ihre Geschichte nicht bis an Dein Ohr gedrungen ist . Sie paßt auch nicht für Frauenohren , denn sie erzählt von Finsterniß und Elend und Herzbrechen . Wenn ich aber meine Absicht erreichen will , so muß ich in aller Ausführlichkeit von ihnen erzählen . Es war zur Zeit , da Nicolai über das Land herrschte , als seine Rathgeber seinem Herzen einen bösen Gedanken ein - gaben , daß er wurde wie Pharao , als sein Sinn danach stand , die Kinder Israels zu quälen . Als ob es nicht schon vorher Trübsal genug gegeben hätte ! Gott weiß Alles , und wen er liebt , den züchtigt er . Das Böse also , das an den Cantonisten verübt wurde , war Folgendes : Die Statthalter der Provinzen und die Oberhäupter der Städte und die Bürger in den Dörfern betrachteten unser Volk mit eifersüchtigen Augen , weil seine Nachkommen groß wurden durch den Segen , mit dem Gott Abraham gesegnet . Und deshalb sagte einer dem andern in listiger Weise : „ Laßt uns Hand legen an die kleinen Kinder , welche gleich den Wurzeln eines Baumes den Stamm einer Nation bilden und stärken . " Und dann kam ein Edict heraus , welches verordnete , daß Jünglinge im Alter von 8 — 15 Jahren — denn das liegt in dem Worte Cantonist — in ihrem Geburtsorte ergriffen und über das Land zerstreut werden sollten . Das geschah nun auf folgende Art . Ueber jedes Dorf wurde ein Aufseher gesetzt , der zumeist ein Glaubensgenosse von uns war , denn er batte doch die beste Kenntniß von der Familie seiner Glaubensbrüder . Dieser Aufseher mußte nun auf Ver¬ langen die erforderliche Anzahl von Knaben der Gemeinde nam¬ haft machen . Zuerst verstanden die Leute die Plage nicht , die über sie gekommen war , aber als gleich darauf ein Kind nach dem andern entführt und das Unglück ruchbar wurde , da erhob sich ein Klagegeschrei , das die Himmelspforten hätte erschüttern können . Seite 387 Aber die Himmel ruhen auf festen Grundpfeilern , deshalb stürzten sie nicht ein und zermalmten die Häupter der Uebel - thäter nicht . Und am meisten litten die Armen , denn sie hatten keine Geschenke , sich die Herzen derjenigen , die diese Angelegen¬ heit in der Hand hatten , geneigt zu machen . Wenn aber der Sohn eines reichen Mannes zum Opfer erkoren war , so ging sein Vater hin und es gelang ihm durch Bestechung einen Ersatz zu finden . Gott läßt doch der heutigen Generation in ganz besonderem Grade seine Gnade zutheil werden , daß ihre Augen nicht erblicken , was unsere in jenen Tagen sehen mußten , denn unser Dorf lag gerade auf dem Wege , den die Kinder nahmen ; und sie kamen in Haufen zu Hunderten , die Reiter an ihrer Seite und hinter sich — und die Reiter trugen Kautschuks in ihren Händen , die nicht müssig waren . Und einer war mit dem andern durch einen Lederriemen verbunden , damit nicht im Dunkel der Nacht einer entrinnen könnte . Denn sie marschirten Tag und Nacht , in ihre langen Mäntel aus rohen Häuten gehüllt , die sie nachschleppten , so daß sie auf ihrem Wege stolperten ; und sie schliefen auf der Erde oder in den Gräben , so daß ihre Kleider mit kothigem Schleim bedeckt waren , wenn nicht Frostwetter herrschte und der Boden gefroren und hart war . Aber von je Hundert , die fortzogen , kehrten kaum zwei oder drei zurück , denn ihre Hände und Füße erfroren und ihr Gehörorgan wurde gelähmt , daß sie nichts hörten . Was die Uebrigen betrifft , so geschah ihnen folgendermaßen : Sie wurden wie Vieh in Ställe eingepfercht , bis sie aus Mangel an Nahrung und Rauni von schleichenden Krankheiten und Ausschlägen er¬ griffen wurden . Diejenigen nun , für deren Genesung keine Hoffnung war , gab man den Bauern , damit sie ihnen die Schweine hüteten . Oder sie wurden ins Joch gespannt und mußten Furchen ziehen wie die Ochsen ; und zwölf von ihnen ersetzten einen Ochsen . Aber für die andern , welche die Krank¬ heit bis in ' s Innerste ergriffen und denen dieselbe das Fleisch von den Knochen gezehrt hatte , für die wurden große Holz¬ schuppen errichtet und in ihre Nahrung wurde ein Opiat ge¬ mischt . Und zur Nachtzeit , als sie schliefen , da wurden große , nasse Strohbündel angezündet und der Rauch drang durch die Ritzen , und so wurde ihr unschuldiges Leben im Schlafe erstickt . Wie , Du glaubst es nicht ? Siehe , ich bin fast am Ende meiner Tage angelangt , was hätt ' ich davon , wenn ich meine Nebenmenschen falsch anklagte ? Diese Dinge sind geschehen , wie ich sie Dir erzähle , und ich habe auch keine Kuh für eine Wind¬ mühle angesehen , eher war ich zurückhaltend in meinem Berichte ; es gibt viele , welche die Erinnerung davon wie ein Gespenst bei Hellem Tage verfolgt . Jedesmal , wenn ein solcher Kindertrupp vorübergezogen war , blickten die Eltern einander mit bleiernen Augen an und wendeten ihre Blicke von ihren Kindern ab . In jenen Tagen wurde manch brauner Bart über Nacht schneeweiß . Das also ist die Geschichte von den Cantonisten , und ich hatte einen Sohn Benjamin . Lange war ich der Heimsuchung entronnen und ich wußte nicht , wem ich mein Glück zuschreiben sollte , wenn es nicht der Umstand war , daß meine Schwester seit zwölf Jahren als treuer Dienstbote in dem Hause des Davoustschik , d . i . des Auf¬ sehers , diente . Es war scheinbar ihren flehentlichen Bitten zuzu¬ schreiben , daß mein Benjamin verschont geblieben war , aber es kam die Zeit , wo der größere Theil der verfügbaren Knaben abgeholt worden und nur die Kinder der Reichen und des Auf¬ sehers und seiner Verwandten und mein Kind zurückgeblieben waren ; eben mein Sohn Benjamin . Und eines Nachts kam meine Schwester mit der Nachricht , daß es kein Entrinnen mehr gäbe , denn die Häscher hatten den Befehl erhalten , meinen Sohn Benjamin am nächsten Morgen zu ergreifen . So groß auch die Trauer meines Herzens war , so legte ich doch nicht die Hände müßig in den Schoß , ohne einen Versuch zu machen , gegen das Schicksal anzukämpfen . Es war keine Rede davon , verstohlen zu entfliehen , da die Ausgänge des Dorfes bewacht waren ; aber in meinem Kopfe war ein Entschluß gereist , im Falle der höchsten Noth . Ich weckte meinen Sohn in der Stille der Nacht — er schlief fest , da er keine Ahnung von der Gefahr hatte — und sagte ihm , was zu geschehen hätte . Der Knabe sah mich wild erschreckt an und antwortete : „ Liebe Mutter , ich fürchte mich ! " Da drang ich in ihn und sagte ihm , es sei kein anderer Ausweg iu dem Unheil , und daß Alles auf diesen einen Wurf gewagt werden müsse . So saßen wir die Nacht hindurch , er hatte seine Arme um meinen Hals geschlungen und ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper . Aber gegen Morgen wurde er |