Nr. 31 Dr. Dlocb's MocbenscbrM. Seite 333 Am anderen Tag hatten sich wieder zwei Lager gebildet: Die Juden auf der einen, das Militär und die Bauern auf der anderen Seite. Plötzlich — es war gegen 7 Uhr abends — hieß es, der Polizeikommissär Kujanow,. der Hauptaufwiegler, sei erschossen. Sein eigener Schriftführer, ein Christ, hatte ihn in der Kiewstraße vor dem Hotel de Rome niedergeknallt. Der Mörder wurde durch einen Juden festgenoulmen und sofort abgeführt. Die Nachricht gab den Anstoß. Auf dem Domplatz trat ein christlicher Student vor und bat das Volk, sich zu zerstreuen. Er appellierte an ihr menschliches Gefühl, sagte, Juden seien doch auch Menschen und hätten doch nichts Böses getan. Er wurde auf der Stelle niedergehauen. Dann riß man ein-.n Juden von der Straßenbahn herunter und schlug ihn vor den Augen der Soldaten und der Polizei tot. Und nun begann das Morden. Auf dem Podol schlug man zwölf Leute tot, zwölf hoffnungsvolle, junge Leute, verwundete schwer an sechzig Leute und zerstörte alles, was man fand. Wer weiß, wie es jetzt um unsere Stadt gestanden hätte, wenn die Juden nicht selbst zu den Waffen gegriffen hätten, um ihr Gut und Blut zu verteidigen. An manchen Stellen leisteten sie ver¬ zweifelten Widerstand, und nur die teilweise unvollkommene Organi¬ sation und der Mangel an Munition ließ sie schließlich ihren an Zahl und Stärke weit überlegenen Feinden unterliegen. Und die Soldaten und die Polizei sahen zu — sie bliebeu sogar uicht untätig, sondern rissen Steine aus dem Pflaster und warfen sie nach den Juden. Und der Gouverneur hatte nur die eine Antwort : „Ich habe alles getan, was ich konnte." Am Morgen gab es keine Droschken, um die Toten und Verwundeten fortzubringen, und Studenten liehen sich Privat¬ wagen und verkleideten sich als Kutscher, um den Gefallenen den letzten Dienst zu erweisen. Der Anblick der Getöteten und Verwundeten soll erschreckend sein, und wer sie einmal gesehen hat, vergißt sie im Leben nicht. Manche wurden mitten auf der Straße hinterrücks erstochen. Im Spital liegen viele im Sterben, mit entstellten, zerschmetterten Gesichtern und Gliedern. Manche haben mehrere Wunden davongetragen und waren gleich tot. Unter den Leichen befindet sich auch die eines- 14jährigen Jungen. Den Kopf auf die Seite gebeugt, liegt er da — ein Brld der Unschuld. Das Spital ist überfüllt und kann die Aus¬ gaben nicht bestreiten. Es mangelt an Wäsche nnd Betten. Die ungestümen Forderungen der beraubten und zu Tode ge¬ hetzten Juden haben schließlich Montag eine Kommission zusammen- treten lassen, um Maßregeln gegen die herrschenden Greueltatcn zu ergreifen. Viele Christen, Stadtverordnete, Aerzte u. s. w. sprachen ihre Entrüstung aus, und die ganze Versammlung begab sich zum Gouverneur, um Rechenschaft von ihm zu verlangen. Auf den Straßen flüchteten sich die Bauern vor der anrückenden stattlichen Menge. Ein christlicher Stadtrat' namens Sagurski rief dem Gouverneur entrüstet zu: „Bei einer politischen Demonstration hätten Sie genug Leute gefunden, um die Menge zu zerstreuen, und nun, wo Leute in den Straßen gemordet werden, finden Sie keine Mittel zur Rettung!" Das Ergebnis dieses Ganges war, daß der Gouverneur eine Bekannt¬ machung erließ, wonach jeder Mensch arretiert werden sollte, der es versuchen würde, eine Menge um sich zu versammeln. Aber noch immer bekamen die Soldaten keinen Befehl, zu schießen. Es hieß, man warte auf einen Befehl aus Petersburg! Inzwischen flüchteten Frauen und Kinder aus der Stadt und drückten sich auf dem Bahnhof beinahe tot. Mehrere Züge gingen vollgestopft täglich ab, und die Leute waren glücklich, wenn sie lebendig auf den Bahnhof und in die Wagen kamen. Verschiedene wurden auf dem Wege dahin durch Steine und Schüsse getötet. Man versteckt sich auch jetzt noch auf Böden und in Kellern und fährt beim leisesten Geräusch zusammen. Es herrscht beinahe Hungersnot. Die Geschäfte bleiben geschlossen, kein Mensch ivagt, sie zu öffnen. Rur mit Mühe und Not kann man Brot auftreiben. Den ganzen Tag wird um Brot gebettelt, die Tür wird keinen Moment geschlossen. Abends sind die Straßen wie ausgestorben. Ucberall nur Soldatenposten und herum¬ ziehende Patrouillen. Wozu die nur die ganze Zeit da waren. Sie haben tüchtig gesorgt, damit die Bauern nicht gestört wurden. Wo man nur hinsieht, erblickt man Flüchtlinge, mit Kissen beladen: der ganze Reichtum, den sie zu retten haben. Man drängt sich scharenweise in ein Zimmer zusammen, bis es keine Luft mehr zum Atmen gibt und die Frauen in Ohnmacht fallen. Du kennst die Lage und die Armut hier. Jetzt wird diese traurige Vergangenheit ein heißersehnter Zustand im Vergleich mit der Gegenwart. Es sind 16 Tote und 80 Schwerverwundete da, von denen viele im Sterben liegen. Wie viele leichter Verwundete mögen in den Häusern liegen! Eben, vor einer Stunde vielleicht, sind elf von den Erschlagenen in die Erde gebettet worden. Tausende von den Leuten standen am Krankenhaus, doch nur wenige gingen aufs Totenfeld hinaus. Mau befürchtete neue Unruhen und verhielt sich vorsichtig. Aber Bäche von Tränen wurden vergossen, und Männer wurden ohnmächtig mitten auf der.Straße. Der Jammer nimmt kein Ende. Und wie lange wird man noch in dieser Angst leben?! Der Haß ist geschürt, die Leiden¬ schaften geweckt. Aus zuverlässiger Quelle wird mitgeteilt, daß der Staatsanwalt beim Ausbruch der Feindseligkeiten nach Petersburg depeschierte, die Unruhen seien ausgebrochen, weil jüdische Jungen auf einem Kahn das Bild des Zaren zerschossen haben. Ein Märchen, das absolut erlogen ist. So kämpft man gegen uns mit allen möglichen und unmög¬ lichen Waffen! ... PS. Aus Burdytschew eilten ungefähr 2o Juden in Wagen herbei und mehrere kamen mit der Eisenbahn, um den Brüdern hier zu helfen. Die in den Wagen wurden von vielleicht zweihundert Bauern unter Anführung eines Uriadnik (Dorfpoliziften) überfallen und vier von ihnen wurden grausam verprügelt. Der eine, ein zufällig dabei- sitzender Kaufmann, ist seinen Wunden erlegen. Die Toten von Schitomir. Petersburg. Von den Schwerverletzten, die in Schitomir in die Spitäler gebracht werden mußten, sind im Lause der Woche wieder neun gestorben. Die Zahl der Toten beträgt jetzt neunundzwanzig. Die Gesamtzahl der Verwundeten beträgt gegen hundert, davon ist etwa die Hälfte schwer verletzt. „Der Freund" erfährt, daß gleichzeitig mit den Vorgängen in Schitomir in einem nahen Dorfe elf junge Leute von den Bauern auf der Straße getötet wurden, als sie den Bedrängten in Schitomir zu Hilfe eilten. Einer von den Mißhandelten hatte sich in ein Bethaus geflüchtet und war die ganze Nacht dort geblieben. Morgens fand man ihn und tötete ihn unter großen Qualen. A u f r n f. Neuerlich sind grauenhafte Nachrichten zu uns gedrungen! Furchtbare, jedes menschliche Gefühl empörende, sich täglich in verstärktem Maße wiederholende Massakres gegen schutzlose jüdische Familien in Rußland haben unter vielen unserer Glaubensgenossen unsägliches Elend herausbeschworen. Zahlreiche Familien allerorts im nordischen Reiche greifen zum Wander- stabe, um sich vor dem drohenden Untergange zu retten. Unsere für derlei Zwecke ausgebrachten Mittel sind bei¬ nahe vollständig erschöpft, und nun treten neue Anforderungen in größtem Stil an uns heran. Wir wären aber außer stände, helfend einzugreifen, wenn uns nicht rasche und ausgiebige Hilfe zuteil würde. Um nicht in unserer philanthropischen Aktion, welche im Laufe der letzten Monate namhafte Summen in Anspruch ge< nommen, innehalten zu müssen, wenden wir uns an alle edlen Menschenfreunde mit der innigen Bitte um Spenden zu gunsten der verfolgten und dem Elend preisgegebenen russischen Juden, die ohnedies unter den schwierigsten Verhältnissen um ihre kümmerliche Existenz zu kämpfen haben. Die Zusendung der Spenden erbitten wir uns in das Bureau der „Israelitischen Allianz zu Wien", I., W e i h b u r g g a s s e 10. DerVorstandder Israelitischen Allianz zu Wien". Wien, 20. Mai 1905. Gin Kaffabuch der Wiener Indenschast. Von Dr. M. Steiner. Bei den neuerlich stattgefundenen Bemühungen, das Archiv der Kultusgemeinde in bessere Ordnung zu bringen, fand sich u. a. ein Kassabuch, welches unter der Ueberschrist „Empfänge und Ausgaben der Gemeindegelder" mit dem 15. Mai 1786 anhebt und mit dem 31. Dezember 1807 schließt. Das wohl¬ erhaltene, 225 Seiten in Amtsfolio enthaltende Kassabuch weist eine ansehnliche Zahl von Eintragungen auf, welche für die Geschichte der Wiener Judenschaft in politischer und Wirtschaft- Hinsicht ungemein interessant sind. Die Anfänge des Gemeinde¬ lebens, die polizeiliche Knechtung, allerlei Familienereignisse finden in der Kassabewegung ihren symbolischen Ausdruck und selbst die Weltereignisse und die kriegerischen Vorgänge jener traurigen 20 Jahre spiegeln sich in den Ziffern des Kaffa- buches. Nicht ohne tiefe Erregung kann das Buch durchgesehen werden. Man vergegenwärtige sich die politische und soziale Stellung ^er Juden während jener Zeit. Nach dem judenfeindlichen |