Sette 294
Dr . Blochs WochenschM .
Nr . 18
Auf eine Interpellation , welche einer von den zionistischen
Advokaturskandidaten in der am 27 . April abgehaltenen
Wählerversammlung an Ministerialrat Kamill Kuranda stellte ,
ob es wahr sei , daß er fich im Bezirkswahlkomitee dahin
geäußert habe , er sei nicht in der Lage , in die Agitation gegen
den christlichsozialen Kandidaten für das Rathausviertel Exzellenz
Dr . von Wütek einzutreten , da er ihm mannigfache Förderung
in seiner Karriere zu verdanken hätte und — falls diese Aeuße -
rung richtig sei — wie er sie verantworten könne , erwiderte
Ministerialrat Kuranda : „ Die Aeußerung habe ich getan
und kann von derselben nichts zurücknehmen . Ich muß hier
offen konstatieren , daß derselbe Minister , der heute als
christlichsozialer Kandidat austritt , mich als ersten Juden zum
Sektionsrat und Ministerialrat befördert hat , daß er mir eine
Auszeichnung erwirkte , welche außer meinem Vater und Pro -
feffor Grünhut nie einer meiner Glaubensgenoffen erlangt hat ,
und daß ich 35 Jahre mit ihm , wovon 18 unter ihm gedient
habe . Wenn aber ein chrifilichsozialer Parteimann seine Objek¬
tivität im Amte in dieser Weise bewährt hat , würde ich es als
ein schweres Vergehen nicht nur gegen die Dankbarkeit , sondern
auch gegen meine persönliche Ehrenhaftigkeit ansehen , wenn ich
ihm diese Handlungsweise damit vergolten hätte , daß ich gegen
ihn , wenn auch im politischen Kampfe , mich als Gegner betätigen
würde . Ich möchte nicht durch ein entgegengesetztes Vorgehen ein
Schlagwort vom jüdischen Undank aus der Reihe der christlich¬
sozialen Gegnerschaft heraufbeschworen haben . Schon im alten
Rom galt es als Sakrileg , wenn der dem Konsul oder dem
Statthalter beigegebene Beamte , der Quästor , gegen seinen ehe¬
maligen Vorgesetzten als Zeuge oder über ihn als Richter zu
funktionieren wagte . Ich habe das Empfinden , daß jedermann ,
welcher ethisch und menschlich fühlt , meinen Standpunkt
wird verstehen können . "
Darauf zielt ein anonymes Zirkular , welches an sämt¬
liche Wähler des Ministerialrates Kuranda versendet wurde ,
imb in welchem mitgeteilt wird :
» Der fortschrittliche Kandidat des Kaiviertels weigert sich ,
den Kampf gegen Christlich - Soziale zu führen , weil ihm aus
seinem freundschaftlichen Verkehre mit diesen Leuten seinerzeit
persönliche Vorteile erwachsen sind . «
Dieses Zirkular wurde anonym — die Urheber schämen
fich selber ihres bübischen Vorgehens und verheimlichen klug
ihren Namen — an sämtliche Wähler des Kaiviertels versendet .
Es will uns indeß scheinen , daß die jüdischen Wähler Intelli¬
genz in ausreichendem Maße besitzen , um den Standpunkt Kurandas
zu würdigen und gerechtfertigt zu finden . Wenn der Ministerial¬
rat Kuranda sich dazu verstanden hätte , gegen seinen ehemaligen
Vorgesetzten , von welchem er wiederholt Beweise des Wohl¬
wollens , der persönlichen Freundschaft und der gerechten Würdi - ,
gung empfangen hat , vor aller Oeffentlichkeit als Gegner und
Feind aufzutreten , so wäre das nicht bloß ein Akt persönlicher
Undankbarkeit , sondern auch ein „ Chillul haschem “ — wohl
geeignet , den jüdischen Namen herabzusetzen , den jüdischen Cha¬
rakter in das schlechteste Licht zu stellen und das jüdische An¬
scheu zu schädigen . Jeder Wähler mit reifem Urteil und nüch¬
ternem Verstände muß zugeben : Ministerialrat Kuranda hat in
diesem Falle klug und taktvoll , wie ein Mann von Bildung und
Charakter , gehandelt .
Ueberdies ist ohnehin jedem rechtschaffenen Juden ein
glaubeustreuer Katholik ungleich sympathischer und vertrauens¬
würdiger als ein jüdischer Täufling ; bei der Wahl im Rathaus¬
viertel bleibt ihm nichts übrig , als entweder einen leeren
Stimmzettel abzugeben oder für Wittek zu stimmen . Daß
gerade zionistische Wortführer Hofrat Kuranda es übel
vermerken und als eine politische Sünde ankreiden , daß er nicht
als Kämpfer gegen Wittek für Neumann auftritt , verdient
jedenfalls auch für die Zukunft notiert zu
werden .
* *

Auf der Landstraße unternimmt es ein kühner Bürger ,
den reaktionären Machthabern fich entgegenzustellen : Herr Josef
Weiß , III . , Reisuerstraße 38 . Dieser Mann verdient schon
wegen seines Mutes , seiner entschlossenen Energie und seiner
Opferwilligkeit allen Respekt und die tatkräftigste Unter¬
stützung seitens der fteiheitlichen Parteien . Er sucht sich
nicht einen Wahlbezirk mit jüdischer Majorität aus , um den
bisherigen Mandatsinhaber zu bedrängen , sondern er zieht in
die Hochburg der Reaktion , um dem Freisinn Neuland zu er¬
obern , und scheut fich nicht , den Kampf in den erbgesessenen
Wahlbezirken des Antisemitismus persönlich aufzunehmen . Das
kann nur ein Mann von starker Initiative und hohem Selbst¬
vertrauen . Herr Josef Weiß hat aus eigener Kraft von den
kleinsten Anfängen zum hervorragenden Geschäftsmann sich
emporgeschwungen , seine Firma ist in weiteren Kreisen re¬
nommiert , auf der Landstraße bei der Geschäftswelt , wie bei
den kleinen Leuten gut gelitten und wegen seiner urwüchsigen
Beredsamkeit vielfach beliebt . Das Werk , welches er unternimmt
ist kein leichtes und seine Waghalsigkeit muß Jedermann impo¬
nieren . Allein : „ Ein kühnes Beginnen ist ein halbes Gewinnen " ,
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*
Eine mehr als interessante Kandidatur ist die des Herrn
Lucian Brunner in Göding - Lundenburg . So wenig wir mit
dem genannten Herrn sonst im politischen Einklang leben , sehen
wir uns doch veranlaßt , unsere Freunde und Gesinnungsgenossen
in dem mährischen Wahlkreis für seine kräftigste Unterstützung
dringend aufzufordern . Herr Brunner kandidiert auf ein demo¬
kratisches Programm gegen den Professor Redlich , der mit
seiner unwürdigen Kriecherei vor G e ß m a n n die widerwärtigste
Erscheinung des verendeten Parlamentes bildete . Er rechnet offen¬
bar damit , daß materieller Besitz stärkeren Ausschlag gibt , als der
Besitz an empfehlenden Eigenschaften . Schon die erste Kandidatur
dieses Täuflings ist für ihn bezeichnend . In letzter Minute
wurde er nämlich von seinem Bruder , dem Fabrikanten , meuch¬
lings statt dieses selbst vorgeschoben und zwang die freiheitlichen
Parteien zu seiner Unterstützung , weil keine Wahl mehr übrig
blieb , wenn der ' Wahlkreis nicht verloren sein sollte .
Was tat der - redliche Professor im . Parlament zum Dank
dafür ? Wie jeder Täufling hatte auch er den Ehrgeiz , von den
Antisemiten anerkannt zu werden . An jenem Tage war dieser Mann
gebrandmarkt , an welchem die Christlich - Sozialen ihn im Reichs¬
rat öffentlich belobten . Welche Schmach für einen materiell ganz
unabhängigen Mann , der so oft sein Wort auf das fortschritt - ,
liche Programm abgab . Es wäre eine Schande für seine Wähler ,
wenn sie sich weiter zu Dienern dieses moralischen Faktotums
der Christlich - Sozialen herabwürdigen . Redlich wählen , heißt
christlichsozial wählen . Ihm von der Bildfläche wegzufegen , ist
moralischer Selbstschutz in der Politik . Die Wahl zwischen Herrn
Lucian Brunner und Professor Redlich wird niemanden auch
nur einen Augenblick schwankend machen .
Lucian Brunner , ein Mann , der die Christlich - Sozialen
zeitlebens mit männlichem Mute bekämpft hat . Redlich , ein
Mann , der politischer Hausjud der Christlich - Sozialen gewesen
ist , mit seinen Wählern sich selbst > erniedrigte . Es hieße die
schwerste , politische Korruption züchten , wenn der christlich¬
soziale Redlich wieder im Parlament einziehen dürfte . Weil
wir aber an Charakter und Intelligenz der Wähler von Göding -
Lundenburg nicht zweifeln , zweifeln wir auch nicht an dem
Siege des Gegners der Christlich - Sozialen über den Freund der
Schwarzen , an dem Siege Lucian Brunner ' s .
Uerfolg « « - der Jude « in Rußland .
Aus dem Jahresberichte der „ Israelitischen Allianz " .
Der in einigen Tagen anläßlich der Generalversammlung
der Israelitischen Allianz zur Ausgabe gelangende diesjährige
Bericht ist überaus reichhaltig . Durch das freundliche Entgegen¬
kommen des Sekretariats sind wir in der Lage , aus dem auf
das Hilfswerk für die russischen Juden bezüglichen Teil die Dar¬
stellung der Verfolgungen unserer Glaubensgenossen im Zaren¬
reiche nach den Bürstenabzügen mitzuteilen . Der Gegenstand ist
um so aktueller als , wie verlautet , der Finanzminister Kokowzew