BEGRIFFE UND WIRKLICHKEIT Brief an Herrn Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen iJ Sie veröffentlichen, hochgeehrter Herr Geheimrat, in den K. C.-Blättern einen Aufsatz unter dem Titel „Zionismus und Religion", der mir in mancherlei Hin¬ sicht, und zwar in seinen Behauptungen ebenso sehr wie in seinen Bestreitungen, bemerkenswert scheint, zu bemerkenswert, als daß man ihn summarisch behandeln dürfte, oder ohne vorher seinen Gedankengang sorgfältig nachgezeichnet zu haben. Sie begründen die Ihnen ungewohnte publizistisch-polemische Äußerung mit der Befürchtung, die Gefahr, die der Zionismus Ihrer Meinung nach darstellt, werde infolge der gesteigerten internationalen Spannung immer größer und aktueller. Das Anwachsen des Antisemitismus lasse die Assimilation als vergeblich, den Zionismus als die einzige Zuflucht erscheinen. Andererseits aber sei es gerade der Zionismus, der die Empfindlichkeit für die nationale Differenz verfeinere und solchermaßen viele, da sie diese nicht zu überwinden vermögen, zu dem Entschluß verleite, sie wenigstens für ihre Kinder durch die Taufe aufzuheben. Der in gleicher Weise glaubens- wie vaterlandstreue liberale Jude aber werde „vom Zionismus verspottet und verachtet", als „ein Feigling und ein Heuchler" bezeichnet. Als ein Heuchler aber auch in seiner Religiosität, denn die Zionisten sprächen jedem, der kein jü¬ disches Nationalgefühl habe, auch die Religiosität ab. Hingegen täten sie, die Zio¬ nisten, sich in einem unnatürlichen Bündnis mit der Orthodoxie zusammen, ob¬ gleich sie selber dem Pantheismus huldigten und der jüdischen Rasse das Merkmal der Heiligkeit zusprächen. „Wenn nun," fahren Sie fort, „der Zionismus Religion und Nationalität gleichsetzt, so erheben wir zunächst den Einspruch, daß wir Nicht- zionisten keineswegs die Religion außer Verbindung sehen mit der Nationalität. Wir setzen nur beide nicht identisch, sondern machen die Nationalität zu einem anthro¬ pologischen Mittel für die Fortpflanzung der Religion." Die Nationalität sei, so er¬ klären Sie, „die naturgemäße Bedingung und Grundlage für den Fortbestand der Religion." Aber Nationalität sei eben etwas ganz anderes als Nation. Nationalität sei eine Naturtatsache, Nation hingegen eine Schöpfung des Staates. „Der Staat erst stiftet und begründet die eine Nation, mit der er sich gleichsetzt. Aber diese eine, durch den Staat definierte Nation kann viele Nationalitäten in sich vereinigen." Auch die deutsche Nation umfasse mehrere Nationalitäten, darunter „unsere fortbestehende Jüdische Nationalität". Der Zionismus aber spreche von der jüdischen Nation; dazu hätte er nur ein Recht, „wenn er grundsätzlich und ausnahmslos den jüdischen Staat erstrebt," Er hingegen fordere nur die „öffentlich-rechtliche" [soll heißen: öffentlich-rechtlich gesicherte] Heimstätte. Indem er aber diese für die Juden for¬ dere, ohne die Einschränkung zu machen: „für diejenigen Juden, die annoch eine solchen entbehren," mache er sich nicht allein einer Kränkung des Vaterlands- Hef t 5. 20 |