namentlich den Städten, in denen der Gemeinderath . aus einer antisemitischen Majorität besteht, zu denken geben. Allerdings ist das Denken nicht Jedermanns Sache. * Zur Entstehungsgeschichte des Märchens von der geheimen Verbindung zwischen Juden und Türken gegen die Armenier in Hasköi giebt die folgende Mittheilung, die wir dem Jewish Chronicle entnehmen, einen dankenswerthen Beitrag: Im Sommer dieses Jahres hat die jüdische Gemeinde zu Canea durch ihren Präsidenten A. Cohen ein sehr entschiedenes Schreiben an den dortigen griechischen Generalkonsul gerichtet, welches auch in der Zeitung „Proia" vom 4. Juli d. I. veröffentlicht wurde, und in dem dieselbe gegen die Verleumdung einer anderen griechischen Zeitung „Ephemeris" mit aller Entschiedenheit protestirte, daß während des Aufruhrs auf der Insel „die Juden von. Canea den Türken die Häuser und Läden der Griechen gezeigt hätten". Also dort gegen die Griechen, hier gegen die Armenier — in der That, einen interessanteren Beitrag zur vergleichenden Sagenkunde kann man sich kaum denken als diesen geharnischten Protest der jüdischen Gemeinde zu Canea. Briefe aus England. Von Rev. Dr. Chotzner in Belfast. f em bekannten englischen Sprichworte gemäß: time is money, sind in neuester Zeit hier zu Lande kurze und leichtgeflügelte Biographien allgemein Mode geworden. Der uloderne Journalist in England wartet in der Regel nicht ab, bis irgend eine nennenswürdige, hervorragende Persönlichkeit ihren Lebenslauf be¬ endet hat und in Ehren und Frieden zu ihren Vätern eingesammelt worden ist. Nein, derselbe braucht intereffantes Material für sein Blatt und schöpft dies aus jeder beliebigen Quelle, die sich ihm darbietet, häufig aber sind es kurze biographische Skizzen, welche den Gegen¬ stand seiner litterarischen Behandlung bilden. Auch unser gelehrter Chief Rabbi Dr. Adler bildete namentlich in jüilgster Zeit den Gegenstand solcher leicht hingeschriebenen Skizzen in englischen Blättern, obschon er noch im besten Mannesalter steht und eine lange, nutzreiche Lebenskarriere noch vor sich hat. Nun beabsichtige ich im Folgenden ebenfalls einige Bemerkungen über dasselbe Thema zu machen, doch sollen diese blos aus einigen charakteristischen Notizen bestehen, die auf Dr. Adlers Wirken und Schaffen in seiner Eigenschaft als Großrabbiner eines Reiches, wo die Sonne niemals untergeht, vorzüglich Bezug haben. Dr. Adler ist in mehr als in einer Beziehung eine hoch- intereffante Persönlichkeit. Ob er im Drawing-room der Königin von England als gern gesehener Gast sich befindet, oder in irgend einer- obskuren Provinzialgemeinde die Streitigkeiten ihrer Mitglieder zu schlichten versucht; ob er mit einem Kardinal und Erzbischof eine lange.Konversation hat, oder die Befähigung eines frisch einge¬ wanderten Kandidaten für eine Schächterstelle in England prüft; ob er einen Vortrag in der Aula des University College hält, oder vor einem Auditorium in irgend einer „Chevra" im Osten von London im Jargon predigt, so ist und bleibt er immer, was der Engländer so bezeichnend „a Gentleman" nennt. Nicht selten kommt es vor, daß er am selben Tage, wo er ein gehaltvolles Essay für ein Londoner litterarisches Blatt ersten Ranges schreibt, zugleich auch eine Gelegenheits-Hymne in klassischem Hebräisch ab¬ faßt oder eine religiöse Frage (nbtfü) im rabbinischen Dialekt be¬ antwortet, die ihm von Rußland, der Türkei oder Jerusalem zur Beantwortung zugeschickt worden ist. Nebstdem bietet sich ihm öfters die Gelegenheit dar, zu zeigen, daß er auf dem Gebiete der alten und modernen Litteraturen wohl bewandert ist und in Werken, die in verschiedenen tobten oder lebenden Sprachen ab- gefaßt sind, sich gar leicht zurecht findet. Es würde mich zu weit führen, wollte ich alle charakteristischen Züge in Dr. Adlers offizieller und litterarischer Thätigkeit hier ein¬ gehend besprechen, und ich muß nüch daher begnügen, auf zwei seiner jüngsten Vorträge hinzuweisen, die einigermaßen geeignet sind, eine Idee von seiner Auffassung der Aufgabe des Judenthums und dessen Satzungen zu verschaffen. Am letzten rDlttf rottf hielt Dr. Adler einen talmudisch - pilpulistischen Vortrag in der „Großen Synagoge" über eine Mischnah im Traktat Joma, worin die Vor¬ gänge beschrieben sind, die in Verbindung mit der Vorbereitung des Hohenpriesters zu seiner religiösen Funktion mit Versöhnungstage in alter Zeit getroffen wurden. Nun, jeder andere Darschan würde damit zufrieden gewesen sein, wenn er im Gedankenkampfe der Meinungs-Verschiedenheiten einen glänzenden pilpulistischen Sieg davon getragen hätte. Nicht so aber Dr. Adler. Er schuf nebstdem daraus eine homiletische Betrachtung, die die Grundlage zu einer schönen, recht ergreifenden, modernen Predigt hätte bilden können. Nicht minder charakterisict Dr. Adlers religiöse Anschauung eine nicht lange zuvor in der North London Synagoge von ihm gehaltene Predigt, welche die Nothwendigkeit der häuslichen Pflege des Bibelstudiums klarstellte. Zum Texte wählte der-Vortragende bei jener Gelegenheit die an Joschna gerichteten göttlichen Mahn- ' Worte, daß er sich mit dem „Buch der Lehre" Tag und Nacht be- beschäftige, und im Laufe der Predigt wies er auf die Frage hin, die wohl Vielen einfällt, wie es nämlich für Joschua möglich war, den fraglichen Mahnworten genau nachzukommen? War er doch . durch die göttliche Botschaft bestimmt worden, das schwierige Amt eines Regenten sowohl, als auch eines Oberbefehlshabers und Richters selbst und in eigener Person zu versehen, und wie konnte er daher nebstdem auch seine ganze Zeit dem Studium des „Buches der Lehre" widmen? Jene Worte aber, meinte Redner, seien keineswegs buchstäblich, sondern vielmehr figürlich zu nehmen. Die jüdische Religion habe es zu keiner Zeit, weder im Alterthum noch in der Gegenwart, von ihren Anhängern verlangt, daß sie ihre täglichen Berufspflichten dem fortwährenden Studium der Lehre opfern. Was sie verlangt und ausdrücklich betont, sei dies gewesen, daß jene vor allem mit den göttlichen Lehren vertraut seien, und diese dann in ihrem Handel und Wandel, in ihrem Wirken und Schaffen be- thätigen und zum Vorschein treten lassen sollen. Jeder Jude, welchem Berufe er auch angehören möge, der seine täglichen Pflichten gewissenhaft erfüllt und seine freie Zeit nur solchen Beschäftigungen widmet, die auf Geist und Herz bildend einwirken, der den Sabbath und die Festtage beobachtet und sie zu . einem Familienfeste gestalten läßt, welches häusliches Glück und häusliche Freuden in Fülle ver¬ schafft, — ein solcher Jude bethätigt wirklich, ob er es merkt oder nicht, die an Joschua in grauer Vorzeit ergangenen Mahnworte: „Nicht weiche dies Buch der Lehre von deinem Munde, und du sollst sinnen darüber Tag und Nacht . . . und dann wirst du Glück haben." Dies ist ungefähr der Sinn und der Inhalt eines großen Theiles der besagten Predigt des Dr. Adler, welch letztere im Großen und Ganzen als ein Modell eines erhebenden, tiefonrchdachteu |