59. Jahrgang. $r. 11. Berlin, 15. März 1895 Allgemeine eitung des Zudenthums. Gin unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse. Diese Zeitung erscheint wöchentlich. Abonnements-Preis: Durch Buchhandel, Postoder direkt von der Expedition in Berlin unter Streifband bezogen Vierteljahr!. 3 M. Nedacteur: Gustav .Narpeles. Begründet von Rabbiner Dr-Ludwig Philippson-Lonn. Verlags-Grpedition: Berlin, Jerufalemerstr. 48/49 Alle Zusendungen für Redaktion und Expedition sind an die Adresse: Verlag der „Allgem. Zeitung deö Judenthums". Berlin SW., Jerusalemer Straße 48/49 zu richten. Verlag von Rudolf Mosse, Berlin. 3ll Leitartikel: Drei Fragen. - Die Woche. - Die Wirthsvolker. Von Dr. I. Rülf. — Frühlingsweben in Israel. Von Dr. Mann. — Ein jü¬ discher Religionsphilosoph unseres Jahrhunderts. Von Pros. Tr. H. Steinthal. — Ueber A. Bernstein. IV. lForts.) Von Karl Emil Franzos. - Feuille¬ ton: Der erste Mann in der Gemeinde. Von Mvrih Scherbel. (Forts.) — Litterarische Mittheilungen. — Sprechsaal. Der Gemeindebote. Korrespondemen und Nachrichten: Berlin. Memel. Lublinitz. Ratibor. Neisse. Pvritz. Hannover. Ans der Provinz Hallliover, Lindheim. Karlsruhe, Strastbnrg i. E.. Wien. Budapest. St. Petersburg, Rew- Pork. — Bon Nay und Fern. Miscellen. Urei Fragen. Berlin, 12. Bkärz. zittern die Erregungen der letzten Jndendebatten im »\L, Reichstage in den Gemüthern nach — unb schon beginnt sich wieder eine nene Aktion vorzubereiten. Wir möchten bei Zeiten darauf aufmerksam machen; vielleicht gelillgt es, die Gegner vor einer unheimlichen Blamage zu bewahren. Der bekannte konservativ - alltisemitische Abgeordnete Freiherr v. Langen hat joeben unter dem Titel „Das jüdische Geheimgesetz unb die deutschen Lalldesvertretungen" ein Handbüchlein für Politiker heraus¬ gegeben, in deni er alles Material, das zur Beurtheilung der Frage von „jüdischen Geheimgesetzen" dienen könnte, gesannnelt hat. Zur Charakteristik dieser Schrift genügt es, auf den Satz hinzuweisen. „Etwas durchaus Neues will der Verfasser nicht bieten; er fußt auf den zwar geschmähten, aber niemals widerlegten Forschungen Eisenmenger's, Ecker's, Gildemeister'S, Rohling's u. A." Vielleicht gehört auch hierzu lioch folgende Blüthenlese aus dem Handbüchlein: S. 5. „Mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit gehen alle gut dotirten Staatsälnter in die Hände der Juden und deren Kreaturen über." S. 6. „Ja, die Juden sind so mächtig geworden, daß sie einige Länder anerkannt beherrschen." S. 9. „Dieses stolze Preußen ist dem Hebräerthum in die Hände gerathen." S. 10. „Ein Jude, der die Wissenschaft der Geheimgesetze verräth, ist des Todes schuldig." Diese Probell genügen wohl, um den Geist des Buches zu kenllzeichnen. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so ist dieses allerliebste Hand- büchlein, das übrigens von zuställdiger Seite sicher eine sachgemäße Beantwortung finden wird, dazu ausersehen, die llächste Aktion gegen Juden und Judenthum eirlzuleiten. Die „Deutsche Tageszeituug", das Organ des Bundes der Landwirthe, bringt in Nr. 112 eine Besprechung des Buches, in welcher „der tiefe Ernst, der es durchweht, die trotz aller berechtigten Schürfe maßvolle Besollnenheit, die quellenmäßige Begründullg ihrer Behanptullg und der logische Aufbau der gestimmten Untersllchuug" gerühmt werdell. Im Alischlusse richtet das Orgali des Blmdes der Laudwirthe die folgenden drei Fragen all die Juden, da es im eigensten Interesse des Jlldelithunls läge, daß elldtich einmal Klar¬ heit über dieselben geschaffen werde. Diese drei Fragell lauten: 1. Was enthält der Talmud, insbesondere jene Theile des Talmuds, die sich heute noch, auch außerhalb der Rabbinerkreise, großen Ansehens erfreuen? Was aus dem Schulchan-Aruch und andern Büchern bekannt geworden ist, ist thatsächlich zum großen Theile höchst be¬ denklich, ja gemeingefährlich. Sind diese Stellen aus dem Zusammen- hange gerissen, — nun gut, so beweise man es durch eine einwand¬ freie Gesammt-Uebersetzung! 2. Inwieweit ist der Tallnud bindend für das Judenthum oder wenigstens für gewisse Synagogen (Brodyer, Jassyer u. s. w.)? Ist der Talmud nicht bindend, kann das Judenthum Nachweisen, daß es den Talmud für nicht bindend erachtet, — nun gut, so braucht es sich doch vor einer Uebersetzung nicht zu fürchten. 3. Werden einzelne Talmud-Theile in den jüdischen Schüler! oder in den privaten israelitischen Religionsstunden als Lehr- und Lesebücher benützt? Obwohl wir lischt recht daran glauben, daß man ernsthaft eine Antwort von uns darauf haben will, wollen wir es doch llicht uliterlassen, dieselbe klar und bündig zu geben. Ueber den Jlihalt des Talmud kann man sich genau ans den dieses Thema behandelnden Schriften der christlichen Professoreli Strack ulld Wünsche oder der jüdischen Gelehrten Deutsch, Jeliinek, Horovitz, Eschelbacher u. A. unterrichten. Da giebt es nichts zu verbergen unb zu vertuscheln; ein Geheim- gesetz giebt es im Judenthum nicht, und es hat auch ein solches nie gegebell. (Sine einwandfreie Gesammtübersetzung des Talmud wäre auch unser sehnlichster Wunsch, aber wir möchten wohl wissen, wie es möglich wäre, eine solche Uebersetzullg zu veranstalten. Ginge sie von ben jüdischen Gelehrten ans, so würde sie ja wahrscheinlich ben Gegnern nicht einwandsfrei erscheinen; sollte sie voll christlichen Ge¬ lehrtell unternomnien werden — mm denn, w i r Hütten nichts dagegen einzulvenden. Aber nian nenne uns auch dann drei Gelehrte in ganz Deutschland (außer deu obengenannten), die auch nur ein Blatt im Talmud zu lesen, geschweige denn zu übersetzen verstehen. Im Uebrigen wollen wir den Herreli ein Geheimniß verrathen. Eill großer, ja vielleicht der größte Theil des Talmud, und der ganze Schukhan-Aruch ist bereits übersetzt unb also Jedermann zugänglich. Wir sind gern bereit, auf Wunsch die lateinisch oder deutsch übersetzten Traktate, sowie die Namen der meist christlichen Uebersetzer in bibliographischer Vollständigkeit zu nennen. Der er¬ zählende oder haggadische Theil beider Talmude ist bereits vollständig |