Nr. hl „bie ^ w^H M Seite 3 massen mit der sozialdemokratischen Agitation kon¬ kurrieren' zu können. Und es erweist sich, dass all diese Parteien ehrlich genug sind, ihr egoistisches Inter¬ esse am Zustandekommen der WallIreformofen einzu¬ gestehen, und dass sie die Motivierung der Reform durch ideale Gründe, die Heranziehung der Menschenrechte usWi jenen Parteien überlassen, die sich in ihres Herzens Tiefe vor der Reform fürchten, für ihren nationalen Besitzstand zittern. /' Um ab6r die zur Macht gelangten Masseri für sich zu gewinnen, müssen die Parteien den üblichen Weg einschlagen: Versprechungen machen. Sie müssen es in diesem Falle um so mehr, als die Massen von der Herrschaft des allgemeinen, gleichen Wahlrechts wunders- viel erwarten und in ihren Erwartungen von den Par¬ teien iiiimer nur bestärkt worden sind. So viel ist ver¬ sprochen worden, dass auf reelle Weise eine baldige Erfüllung kaum möglich ist. Geht es aber nicht auf reelle, so geht es eben auf eine andere Weise: die antisemitische. Diese ist in der Tat immer und über¬ all der bequeme, niederträchtige Ausweg, wenn eine Partei die Masse ihrer Gefolgschaft von einer Richtung ablenken will, in der sie sie ungern tätig und fordernd sieht. Lässt sich von einer einzigen der erwähnten Par¬ teien mit Zuversicht voraussagen, dass sie in aller Zu¬ kunft jenes Auskunftsmittel von sich weisen, dass sie, auch in die Klemme geraten, darauf verzichten wird? Von den Sozialdemokraten etwa, die sich auch bisher manchmal auf einem kleinen Flirt mit den antisemitischen Instinkten der Masse haben ertappen lassen? Ton den Jungtschechen, die den Antisemitismus ganz offiziös als Straf- und Rachegeissel für unerwünschte jüdische Wahlbeteiligungen in Reserve hatten? Von den Kleri¬ kalen, die zwar nicht offen gegen die Juden auftreten, weil sie auf die christliche Liebe programmatisch ein¬ geschworen sind, die aber eigene Landsknechttruppen für das unreinliche Geschäft besolden ? Von den Christ¬ lichsozialen, nicht wahr, können wir in diesem Zu¬ sammenhange schweigen . . . Soweit die Parteien. Was den Judenpunkt anlangt, gibt es nur Gradunterschiede unter ihnen. Und die Erklärung liegt nahe : sie kennen die Massen, mit denen sie es zu tun haben, und sie kennen die unausrott¬ baren Instinkte der Masse : die Unduldsamkeit, den Fremdenhass. Aber die Aulklärung! wird man uns ein¬ wenden; und wird den alten Satz aufwärmen, dass politische Entrechtung entsittlichend wirke, dass Auf¬ hebung des politischen Druckes auch die sittliche Be¬ freiung im Gefolge habe. Gewiss ist die politische Frei¬ heit die notwendige Voraussetzung für einen Aufschwung der Sittlichkeit; gewiss gedeiht aufgeklärtes Menschen¬ tum nicht unter Unmündigen und Entrechteten und gewaltsam Niedergedrückten. Der hohe Stand der all¬ gemeinen Bildung in Deutschland steht sicherlieh im Zu¬ sammenhange mit dem allgemeinen Wahlrecht. Aber falsch .wäre es, deshalb anzunehmen, dass politische Befreiung jedesmal Aufklärung und Duldsamkeit zur notwendigen Folge haben müsse. Der Zusammenhäng besteht zwar, ist aber kein unvermittelter. Zwischen Ursache und Wirkung steht da noch immer eines: das sind die Führer der Massen. Führer van hoher Sittlichkeit erziehen das Volk, indem sie es zu den Urnen führen; Führer, denen die Politik ein blosses Geschäft ist oder ein Mittel zur Befriedigung des Macht¬ hungers und des Ehrgeizes, korrumpieren das Volk just bei dieser Gelegenheit. Und ich frage: wo sind die Führer, wo die Parteien in Oesterreich; die sich um eine - andere als rein politische Erziehung des Volkes kümmern?, Dieken Mut haben* dem Volke dtorö -und wann auch das zu sägen, was ihm nicht angenehm zu hören ist, sich seinen Instinkten entgegenzustemmen, den geehrten Wähler zu einem ehrlichen Mitarbeiter an der allgemeinen Gesittung zu erziehen ? Es ist zu einer politischen Gewohnheit ge.worden, : dass viele jüdische Wähler, ohne dem sozialdemo¬ kratischen Programm in seinen wesentlichen Punkten beizustimmen, bei den Wahlen die Sozialdemokraten unterstützen. Diese Gewohnheit wird noch allgemeiner werden, wenn in Zukunft, wie mit Sicherheit zu er¬ warten steht, der politische Hauptkämpf zwischen Klerikalen und Sozialdemokraten auszutragen sein wird. Und in der Tat, welche andere Wahl bleibt selbst dem politisch gemässigten Juden 1 übrig, der seinen Wahl¬ zettel nicht einfach in der Schreibtischläde liegen lassen will? Der aber auch nicht, durch Unterstützung eines Pseudoliberalismus, eines Scheindemokratismus, vor sich selber lächerlich werden will? Es ist ganz natür¬ lich und wohl zu begreifen, dass so viele Juden sich, wenigstens bei den Wahlen, der einzigen mächtigen und zukunftreichen Partei zuwenden, von der sie bisher nicht tatsächlich verraten und betrogen worden sind, der einzigen, die den Antisemitismus nicht geradezu als Programmpunkt erklärt, sondern bloss als " — Privat¬ sache zugelassen hat. Ausser diesen zwei Möglichkeiten — politisch un¬ tätig bleiben oder sozialdemokratisch wählen — gäbe es allerdings eine dritte : Organisation der Juden. Aber gerade mit dieser Möglichkeit haben sich die Juden bisher am wenigsten beschäftigt. Und solange sie es nicht getan haben, ist ihnen, auch vom Standpunkt einer jüdischen Realpolitik, die überall nach dem jüdischen Vorteil fragt, aus ihrer sozialdemokratischer! YVahltags- Ueberzeugung kein Vorwurf zu machen. Wohl aber daraus, dass sie sich der Hoffnung hingeben, die Sozialdemokratie würde, je mehr sie durch das all¬ gemeine Wahlrecht an Macht gewinnt, desto freisinniger, vorurteilsfeindlicher, demokratischer wer den. Das gerade Gegenteil scheint mir richtiger zu sein und eher zu er¬ warten. Und da es noch immer Juden gibt, die seit dem Niederbruch der Liberalen nach einer neuen Judenschutztruppe Auslug halten, so mögen vor allem sie siciYs gesagt sein lassen: die Sozialdemokratie wird diese neue Judenschutztruppe niemals sein, aus partei¬ taktischen Gründen niemals sein können. Schon deshalb nicht, weil sie es im katholischen Oesterreich mit einer weit mehr als in Deutschland zum Judenhass neigenden Masse zu tun hat und weil sie ihren Haup'feinden, den Klerikalen und den Christlichsozialen, nur durch vor¬ sichtige, auf deutsch feige Behandlung des Judenpunktes Stimmen abzujagen Aussicht hat. * Dies alles sollen keineswegs versteckte Grunde gegen das allgemeine Wählrecht sein. Das allgemeine Wahlrecht wird ja auch soundsoviel tausend Juden das Wahlrecht verleihen. Wir gönnen es ihnen, wir gratulieren ihnen dazu : wird doch damit in arme Hände ein Stück Recht und ein ganz kleines Stück Macht ge¬ legt. Wir sind nur dagegen, dass die Juden sich über die Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts einer furcht¬ baren Selbsttäuschung hingeben, dass sie mit über triebenen Hoffnungen ihre Wachsamkeit einlullen. Wi" wollen, dass die Juden klar in die Zukunft bi:cken r dass sie ihr Heil nicht etwa von dem „revolutionären " Gerechtigkeitsgefühl der durchs allgemeine Wahlrecit zur Macht gelangenden Bevölkerungsschichten erwarten, sondern sich darauf vorbereiteti, dass das durchgeführte allgemeine Wahlrecht eher ein Anschwellen als ein Abschwellen des Antisemitismus zur- Folge haben wird |