Seite 8. J?it$WdL‘ Nr. 13. diger und Rabbiner haben die überschwänglichsten Lobreden gehalten und ihren Dankesgefühlen den inbrünstigsten Aus¬ druck gegeben, und jetzt noch, Wochen nach der Feier, wird jede Gelegenheit benützt, um der für die Juden so erheben¬ den Jubiläumstage zu gedenken. Es kommt mir, dem Aus¬ länder, schwer an, euch eure Freude zu trüben, aber ich muß gestehen, wir haben in den Vorgängen der Jubiläums¬ feier manchen schweren Schatten bemerkt.Wir haben davon gelesen, daß die Königin von dem geistlichen Hirten der englischen Gemeinde, vom Bischof der römisch-katholi¬ schen Kirche den Segen empfing; sie hat vor der St. Pauls- Kathedrale Halt gemacht, sie hat einen großen Umweg ge¬ macht und vor der katholischen Kirche ihr Haupt gebeugt — aber wir haben nichts davon gelesen, daß sie vor einer Synagoge oder einem Tempel auch nur fünf Minuten ver¬ weilt hätte, um den jüdischen Vollbürgern und Vollenglän¬ dern gewissermaßen officiell ihre Gleichberechtigung zu be¬ stätigen. Wenn der .Kaiser von Oesterreich eine Stadt mit seiner Anwesenheit beehrt, steht die Vertretung der jüdischen Gemeinde neben dem Bürgermeister und Pfarrer, und wenn die Geistlichen christlicher Confession ihren Segen gesprochen haben, hört der Monarch ehrfurchtsvoll die heiligen Worte, welche der Rabbiner, die Thorarolle im Arme, bedeckten Hauptes, vorträgt. Wo waren eure Thorarollen, wo eure Vertreter, wo eure Rabbiners Der Millionär wurde sehr böse und still; ich war offenbar in die tiefste Ungnade gefallen. „Wir werden uns über die Juden in England nienials verständigen", sagte er endlich mit colossaler Ueberlegenheit. „Aber ich muß Ihnen doch mein Bedauern darüber aus¬ sprechen, daß Sie förmlich danach fahnden, die Blößen der Juden und die Schwächen ihrer Lage herauszufinden, das ist weder edel noch taktvoll." „Mein werther Herr, das hat die Welt schon manches¬ mal und größeren Leuten gesagt, als wir Zionisten es sind. Ihr wollt Euch in Euren, Schlafe nicht stören lassen; gut, wir gönnen Euch den von ganzem Herzen. Aber Ihr dürft nicht verlangen, daß wir anderen, die man nicht schlafen-, läßt, sich Euch zu lieb die Hände vor die Augen halten' sollen, um ja nicht die nackte traurige Wahrheit zu sehen." Wie um mich für die Kurzsichtigkeit des Millionärs zu trösten, führte mir der Zufall am selben Abend einen anderen Stammcsgenosfen, einen ehemaligen Kaufmann in der City und jetzigen Rentier in den Weg. Der Mann ist in seinem Leben nicht über London und dessen nächste Um¬ gebung hinausgekommen, ist ein Urcockney mit allen unan¬ genehmen Merkmalen eines solchen (er verliert oft das h am Anfänge der Wörter, sagt ..nenn" statt „now“ je.) und erinnert an den gewissen Typus des Wiener Juden, der am Grund ausgewachsen ist und von, Urwiener in der Sprache nicht zu unterscheiden ist. Der alte Knabe war nnt dem zionistischen Gedanken vollkonuuen vertraut, wie überhaupt die gesannnte Judenheit in England sich im freundlichen oder feindlichen Sinne für den „Jndenstaat" interessirt, und lehnte aber schlau, mit einem schelmischen Augenzwinkern, den Anschluß an die Partei ab. Warun, wollte er bei Tische nicht sagen; erst im Salon, als die Haustochter sang, und wir gemüthlich in einer Ecke plau¬ derten, rückte er heraus. „Es ist für England zu früh, es geht den Leuten zu gut." „Aber darum wäre ja eine zionistische Agitation erst recht nöthig!" „Nichts für einen alten Mann; Sie bringen mich früher in's Grab, bevor ich was richten kann." „Aber Sie glauben an den endlichen Sieg des Zio¬ nismus ?" „Ich glaube, trotzdem ich unter englischen Juden lebe, an den endlichen Sieg der Vernunft." (LvxhiXrte. Geehrter .Herr Redacteur! Die Vorkommnisse der letzten Zeit, die Enttäuschungen, die das Gesetz vom 21. Mär.; 1890 und das neue Gemeindestatut den jüdischen Eultusbeamten gebracht haben, ihre desolate, materielle und sociale Lage — geschah es doch, daß um eine mit 600 fl. ohne Wohnung dotirte Rabbiner-, Cantor- und Neligionslehrerstelle 16 Bewerber sich fanden — nöthigen uns, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln eine Aenderung unserer Misere anzustreben. Trotz der neuen Bestimmungen wird nach wie vor der jüdische Eultusbeamte in Böhmen auf 1-3 Jahre angesteltt -- gegen den § 38 des Statuts der Cultusgemeinden, nach wie vor wird er ohne triftigen Grund ganz entgegen dem Statute § 41 a—d entlassen, und geht es nicht anders, wird ihm das Gehalt gekürzt ein probates Mittel - und er muß gehen: denn wenn sein bisheriges Gehalt zur Nothdurft hinreicht, was soll er mit 400—500 600 fl. anfangen, das sind die höchsten Gehalte! Es ergeht demnach an alle Eultusbeamten Böhmens die Auf¬ forderung, an der Generalversamnllung des israelitischen Lehrervereines in Böhmen, die am 29. und 30. August in Prag stattfindet, theilzu- nehmen. Folgende Anträge liegen vor: 1. Das Gehalt des Eultusbeamten - Rabbiner, Lehrer und Cantor sei den örtlichen Verhältnissen entsprechend, jedoch niemals unter 600 st. bei freier Wohnung. 2. Die Anstellung muH nach 1 Zjährigem Provisorium eine de¬ finitive werden. 3. Jeder Candidat um ein solches Amt sei verpflichtet, Mitglied des Pensionsfondes zu sein. 4. Jede Eultusgenleinde s sei verpflichtet dem Pensivnsfonde nach ihren Verhältnissen beizutragen. 5. Streitigkeiten zwischen Gemeinde und Beamten unterliegen dem Schiedsgerichte des Gemeindebundes. 6. Nicht das Alter, die physische und intelleetnelle Eignung soll über die Berechtigung zur Bewerbung um eine Stelle entscheiden. Alle Erschienenen haben sich durch Ehrenwort und Unterschrift zur Erfüllung dieser Beschlüsse zu verpflichten. Dringlich Ablvesende thun dies durch Zuschrift an den Obmann des israelitischen Lehrervereines in Böhmen, .Herrn I. Springer-Prag, Jnngmannsgasse 19, vor der General¬ versammlung. Das vorbereitende Comitö. Massenelend in Galizien. Geehrter Herr Redacteur! Sie haben traurige Jllustrationsfacta von der Judennoth ans dem flachen Lande, in Galizien gegeben. Sie fragen, ob es in den Städten besser aussieht, da ja hier das Individuum doch nicht isolirt sei, sondern unter ständiger Eontrole und daher vollkommenerer Hilfsbereitschaft seiner Nachbarn stehe? Sie täuschen sich! Hier fehlt der frische Hauch, der über die Felder weht, hier fehlt das Grün der Bäume und der belebende Anblick reifender Felder, hier fehlt die ganze Poesie des Bodens, die auch den Unglück¬ lichsten fiir Momente sein Elend vergessen machen katin, in den engen, krummen Gassen, wo kein frischer Luftzug durchströlnt und Alles ver¬ staubt und vermodert ist, Menschen, Thier und Haus, lvohut das grausige Elend des jüdischen Kleinstädters. Ich soll Ihnen ein Bild geben von dein Leben und Treiben unserer Juden, was sie freut und was sie schmerzt, was sie leiden und was sie ertragen? Ich lverde Ihnen kleine Skizzen, tose Blätter, geben, wahrheitsgetreue Geschichten aus unserer Stadt. Ich fürchte, es wird mit der Zeit ein gar dickes Buch werden von Unglück und Jammer. Feiwisch Dienstag ist ein Wohnungsmakler. Sein hagerer Körper ist mit einigen Lumpen nothdürftig bedeckt. Die schief ausgetretenen, defecten Röhrenstiesel entbehren schon längst jeglicher Reinigung. Sein Filzhut muß einst schwarz gewesen sein, heute ist er aber durch eine feste Schichte von Staub, Fett und Koth bis zur Unkenntlichkeit über¬ zogen. Feiwisch Dienstag trügt keine Seitenlocken. Ein kurzer, struppiger Bart utnrahmt ein kleines, mageres Gesicht, aus dem die matten, glanz¬ losen Augen resignirt unb vollkommen apathisch ins Leere starren. Tiefe Furchen auf der Stirne und die gramaebenate Haltung zeugen von den: schweren Kampfe, den dieser Mau ? zu führen hat. Der Makler eilt nach Hause. Es ist kalter Winter. Unter dem Rocke trägt er ein Zehnkreuzerbrot. Die Uhr schlägt eins und er hat den ganzen Tag nichts verdient. Jetzt war es ihm doch geglückt. Lea, die an der Ecke der Baron Hirschschule Aepfel verkauft, hat eine Wohnung gebraucht. Der Schuster, bei dem sie seit 4 Jahren als Aftermietherin gewohnt hatte, war vor 8 Tagen ins Spital transportirt worden und eine Frau, die den Zins von fl. 1.50 per Monat durch vier Monate nicht bezahlen konnte, mußte die Wohnung räumen. Sie weiß noch nicht, wohin, mit den zwei kleinen, kranken Kindern will sie Niemand „herein- nehmen". Lea hat durch Intervention Feiwisch's eine Wohnung gefunden und sie tvird, so Gott will, Sonntag einziehen. Allerdings tvar die Wohnung nicht die beste. Denn in dem kleinen Raume wohnten schon außer dem Wirthe sammt feiner Familie drei Aftermiether. Aber die Wohnung war billig und das war entscheidend, vier Gulden jährlich Ot beliebigen Raten. So hatte Feiwisch heute 10 Kreuzer verdient. |