Redaction und Administration: WIEN IX., Türkenstrasse Nr. 9. Telephon 14199. Erscheint jeden Freitag. Zuschriften sind nicht an einzelne Personen, sondern an die Redaction oder Administration: Wien, IX., Turkenstrasse Nr. 9, zu richten. Unfrankierte Briefe werden nicht angenommen und Manuscrlpte nicht zurückgesendet. Sprechstunden der Redaction: Montag, Mittwoch und Freitag von 3—4 Uhr. Preise der Anzeigen: Die viermal gespaltene Petitzeile 20 Heller. Der Inseratentheil wird Dienstag abends geschlossen. Einzelne Nummern 30 Hefler. Oesterreich-Ungarn: ganzjährig 12 Kronen, halbjährig 6 Kronen. Für das Ausland: Deutschland ganzjährig 13 Mk. 70 Pf., halbjährig 6 Mk. 85 Pf., England ganzjährig 14 Shg., halbjährig 7 Shg., Russland ganzjährig 7 R., halbjährig 3 R. 50Kop., Schweiz, Frankreich, Italien, Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Griechenland, Aegypten ganzjährig 17 Frcs., halbjährig 8 Frcs. 50 Cts., Amerika ganzjährig 3 Doli. 40 Ct. Nr. I. Wien, 4. Jänner 1901. 5. Jahrgang Das Jahr 1900. Von Berthold Feiwel. I. Das Jahr 1900 der allgemeinen Zeitrechnung war ein trübes Jahr für die Juden. Man wird es neben die traurigsten Jahre des Golus setzen müssen. Diejenigen, die die Dinge an sich vorüberziehen lassen, ohne über die Ürsachen der Geschehnisse und die treibenden Kräfte nachzudenken — und solcher gibt es leider unter den Juden noch viele — werden sich unschwer über das Unglück von 1900 hinweg¬ setzen, so ehrlich sie es auch beklagen mögen. „Wir wollen hoffen, dass es im kommenden Jahre be-ser werden wird .. . Der Judenhass wird wieder vorüber¬ gehen . .. Das Licht der Aufklärung muss endlich siegen . . . Unsere Sache ist die Sache der Menschheit. . . u. s. w." Der Leitartikler der jüdischen Blätter, der den Kinnoth des Jahres dieses Gebet an die Sonne folgen lässt, lebt sicherlich in dem Wahne, mit derartigem Trost genug für die Aufrichtung der gebeugten und verzagten Juden gethan zu haben. Und es ist erstaun¬ lich und bezeichnend, wie gut er seine Juden kennt. Mit solch leerem Pathos und kindischem Geschwätze lässt sich wirklich ein nicht geringer Th eil der Juden zufriedenstellen. Dieses Phrasentlium — unglückliche Piirasen haben immer mehr Schaden gestiftet als un¬ glückliche Thaten — das zu allem Ueberfluss noch frömmelnd daher kommt und sich als den Ausfluss von Gottergebenheit und religiöser Empfindung geben möchte, hat das politische Denkvermögen der Juden immer mehr und mehr eingeengt und auf der einen Seite die be- trübendste Passivität und Resignation, auf der anderen Seite den gefährlichsten Optimismus und eine thörichte Ueberschätzung der eigenen Kraft grossgezogen. Mit diesem Eiapopeia, das beinahe unser Grabgesang hätte werden können, hat man die Verschüchterten und Schwachen in einen lebenslangen Schlaf gelullt, die kräftigen Juden aber werden zu immer neuen zweck¬ losen Kämpfen angespornt, immer neuen Enttäuschungen zugetrieben. Und so sehr hat sich ein Theil der Juden an diese Art der Behandlung jüdischer Angelegenheiten gewöhnt, dass man die als Friedensbrecher und Ruhe¬ störer betrachtet, die es wjgt-n, aus den traurigen Prämissen einen anderen als den gewohnten tröstlichen Schluss zu ziehen. Der europäische Judenhass, der seit ungefähr zwei Jahrzehnten wieder jäh aufsteigt, nachdem er zuvor für einige Zeit beinahe latent war, hat im Jahre 1900 einen erschreckenden Hochstand erreicht. So sehr man auch das Beste wünschen möchte, so wäre es doch sündhaft, wollte man die europäischen Juden glauben machen, dass sie in den kommenden Jahren . ein Abfliessen der antisemitischen Strömung zu er¬ warten hiben. Nicht nur dass man es nicht wagen darf, mit derartigen Unwahrheiten zu kommen, man hat leider nicht einmal Grund, diejenigen mit Ent¬ schiedenheit für Schwarzscher zu erklären, die die Ansicht vertreten, der Hochstand des Judenhasses könne in den kommenden Jahren noch leicht überboten werden. Was den Antisemitismus so gefährlich macht und von Tag zu Tag seine Ausdehnung und seine Macht steigert, das ist, dass er nicht allein die instinctiye Aeusserung unserer arischen Gegner ist, sondern in immer neuen und grösseren Mengen in den Kämpfen erzeugt wird, die unsere Zeit beherrschen. Man hat das abgeschiedene Jahrhundert, das ja so viele Namen be¬ kommen hat, nicht, mit Unrecht das Jahrhundert des Sturmes und Dranges genannt. Aber das Stürmen und Drängen ist noch lange nicht zu Ende. Die Haupt¬ schlachten werden eist im neuen Jahrhundert geschlagen werden. Die Kämpfe um nationale, wirtschaftliche und religiöse Güter, von denen unser Tag widerhallt^ sind nichts Neues. Sie wurden immer gekämpft und waren in barbarischeren Zeiten, als es die unseren sind, un¬ vergleichlich brutaler. Aber in keiner Epoche des euro¬ päischen Tölkerlebens wurden diese Kämpfe zu gleicher Zeit mit einem solchen Aufgebot der Massen und der Kräfte und einer so unbeugsamen Energie geführt, wie in derjenigen, in der wir leben. Die ganze Persönlich¬ keit des Einzelnen, der Fanatismus der Parteien, die Leidenschaft der Völker und die gewaltige Stosskraft der Menge werden in diesen Kämpfen voll ausgenützt und zielbevvusst verwendet. Diese grössten Kämpfe aller Zeiten können wir genau mit eigenen Augen verfolgen. Aber was diejenigen zu sehen bekommen, die die Be- |