ROMAN-BEILAGE DES „JÜDISCHEN ECHOS“ DER LETZTE WALD|UDE VON J. OPATOSCHU Aus dem Jiddischen von Siegfried Schmitz IM WALDE Mordechais Ahnen Mordechai, sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater, alle bis hinauf ins sechste Ge¬ schlecht, waren in den Wäldern von Lipo- wiec geboren worden, hatten untereinander geheiratet und innerhalb der Familie gelebt. Alljährlich zur Chanukkahzeit kamen sie bei dem Ältesten der Familie zusammen und hielten Abrechnung. In den alten guten Zeiten kamen ihrer mehr als hundert zusammen. Einer glich dem an¬ dern, wie Bäume. Sie saßen bis über Mitter¬ nacht am Eichentisch, schrieben mit Kreide Striche und Ringe und aßen gebratene En¬ ten, so viel, daß die Frauen fast müde wur¬ den, wenn sie die Federn schlissen. Dazu tranken sie hausgebrautes Bier und stritten miteinander, was das Zeug hielt. Sie waren alle jähzornige Leute, gerieten rasch in Hitze, versöhnten sich aber bald wieder, schlossen Ehebündnisse und fuhren wieder auseinander. Kam bei einem von ihnen eine Hochzeit vor (und das geschah sehr oft), so strömten an nahen Verwandten allein mehr denn drei¬ hundert zusammen. Jede Sippe brachte aus ihrer Gegend den Rabbiner mit und eine Musikkapelle — un¬ ter freiem Himmel wurde aufgespielt, man stritt, stets wollte man die Heirat in letzter Minute auseinandergehen lassen, versöhnte sich aber immer wieder und tanzte in allen Zimmern und Scheunen und im Wald. Da es ihnen zu gut ging und sie viel Zeit hatten, war ihre Jugend immer verliebt, im¬ mer schreckten die Jungen die Alten damit, sie würden sich vergiften, gäbe man ihrer Liebe nicht nach. Die Alten prügelten dann die Jungen und jagten sie aus dem Hause. Die Jungen baten stets um Verzeihung und kehrten zurück. Es geschah einmal, daß ein Fischerbursche von jenseits der Weichsel sich in ein Mäd¬ (Copyright 1929 by Dr. Präger, Pressedienst, Wien-Berlin> chen aus dem Geschlechte der Waldjuden verliebte und sie sich in der nächsten Kirche antrauen ließ. Da lauerte die Jugend dem jun¬ gen Paar auf der Chaussee auf und entriß das Mädchen dem Burschen wieder, da sie keine Getaufte in der Familie haben wollten. Vor Scham warf sich das Mädchen in die Weichsel und tilgte so den Familienfleck. So lebten Mordechais Ahnen, einfache, auf¬ rechte Juden, in den Wäldern von Lipowiec bis ins hohe Alter, machten sich wenig Sor¬ gen, füllten die Truhen mit Kostbarkeiten, vermehrten sich und hielten den Kindern Lehrer bis in ihr sechzehntes Jahr; aber mehr als Beten, Kenntnis des Wochenabschnittes und in seltenen Ausnahmen die Thora „leie- nen“, erlernte die Jugend nie. Einmal zur Chanukkahzeit, als die Sippe eben heftig gestritten und dazu fette Enten gegessen hatte, wurde Mordechais Urgro߬ vater, damals der Älteste der Familie, plötz¬ lich krank. Die alten Fischer, der Bader, der Stadtdoktor, keiner konnte helfen; der Kranke war schon halb hinüber. Die Waldjuden sa¬ ßen um ihn herum, rauchten starken Tabak und versanken in trübes Nachdenken; jeder von ihnen überlegte, wer wohl die Thora¬ rollen erben würde (die Thorarollen gingen immer auf den Ältesten der Sippe über, bei dem man sich zur Chanukkahzeit zur Ab¬ rechnung versammelte). Da geschah ein Wunder. Vor dem Hause fuhr ein Wagen mit zwei Pferden vor, ein Mann stieg aus und bat um Nachtlager. Er sagte, er begleite den Lubliner. Kaum war der Rabbi von Lublin eingetreten und hatte dem Kranken die Hand aufs Haupt gelegt, da fühlte er sich leichter und richtete sich auf. Seither fuhr Mordechais Sippe nach Lublin; später nach Pschyscha, dann nach Kozk. Und da sie heißblütige Menschen waren, wurden sie glühende Chassidim, saßen oben¬ an an des Rabbi Tisch und hörten auf, unter¬ einander zu heiraten; lag eine Partie vor, so fuhr man zum Rabbi sich Rats holen. |