ROMAN-BEILAGE DES „JÜDISCHEN ECHOS“ DER LETZTE WALDJUDE VON J. OPATOSCHU Aus dem Jiddischen von Siegfried Schmitz (Copyright 1929 by Dr. Präger, Pressedienst, Wien-Berlin 36. Fortsetzung „Wie kann man die Hand gegen eine Frau heben, noch dazu eine Witwe?“ — Mordechai trat mitten unter die Streitenden. Der Bauer riß sich von dem Jungen müh¬ sam los, betrachtete eine Weile Mordechai und sprach in entschuldigendem Tone: „Wenn sie anfängt!“ „So gib das Schwein her!“ schrie die Bäuerin und hielt ihren Knaben zurück, der wieder auf den Bauern mit einem Schnee¬ ballen losging. „Bezahle den Schaden!“ „Gib ihr das Schwein zurück, gib es zurück, Maciej!“ Einige Nachbarn standen plötzlich da und bedrängten, den Bauern. „So soll sie versprechen, daß sie das Schwein nicht mehr in meinen Hof lassen wird!“ Die Bäuerin gab keine Antwort; sie kniete im Schnee und bat ihren Jungen, er möge nach Hause gehen. Der zehnjährige Bauern¬ junge wollte sich fortwährend von der Mutter losreißen; er drohte mit der kleinen Faust und schrie: „Was, er wird meine Mutter schlagen!“ Der Junge riß sich von der Mutter los, lief einige Schritte zurück und begann den Bau¬ ern mit Schneeballen zu bombardieren. Der Bauer lief ihm nach. Mordechai hinter beiden. Er sah, wie der Bauer zurückblieb, aber aus Scham vor den Umstehenden verdrießlich weiterlief. Der tiefe Schnee machte ihn müde. Er blieb stehen und begann keuchend zurück¬ zugehen. Mordechai wandte sich ab. Vor sich sah er eine Schenke und ging hin, um nach den trockenen Kartoffeln, die er zum Früh¬ stück gegesen hatte, einen Trunk zu tun. Niemand sah sich nach Mordechai um, als er in die Schenke trat. Es war ein großes Zimmer; an der Mittelwand stand ein Bett ln voller Unordnung, darauf lag ein rot¬ haariges Kind, strampelte mit den Füßen und schrie. Über dem Bett hing ein Muttergottes¬ bild in einem Rahmen, dem das Glas fehlte. Zwischen der Wand und dem Ofen standen, halbbedeckt durch einen Kattunvorhang, zwei Betten rechtwinklig zueinander. Eine ausgemergelte Frau mit dem Gesicht eines halbwüchsigen Mädchens saß auf einem der Betten, hustete trocken und herzte ein kleines Kind. Eine Alte, ein dreieckiges Tuch auf dem Kopf, unter dem aschgraue Haare her¬ vorlugten, schälte Kartoffeln, wobei sie ihren eingefallenen Mund bald öffnete, bald schloß. In ihrem Aussehen lag etwas Hexenhaftes. Neben der Tür bei einer Kommode, auf der zwei Paar Messingleuchter standen, saß ein aufgeschossener hagerer junger Mann, auf dessen Kinn und Wangen da und dort schüt¬ tere Haare standen, wie Pflanzen auf einem Stück Sandboden; er wiegte sich langsam über einem Buche. Mordechai sah sich um, in der Meinung, er sei fehl am Orte. Wären nicht ein paar Bier¬ fässer und einige Branntweinflaschen zu sehen gewesen, er hätte nie geglaubt, in einer Schenke zu sein. Auf der Kommode und auf den Sesseln ringsum lauter Bücher. Geome¬ trische Figuren, aus Pappdeckeln geschnitten, lagen auf dem Fußboden umher. Hinter dem Vorhang ließ sich eine schwache Stimme hören: „David, David, ein Kunde ist da.“ Der junge Mann warf den Kopf empor, als jagte er eine Fliege weg, faßte sich an die schütter bewachsene Lippe, saß eine Weile stumm und reglos mit geschlossenen Augen da und rief dann plötzlich: „Chane, brauchst du mich?“ „Daß du endlich einmal unterbrochen hast!“ fiel die Alte böse ein und wies auf Mordechai, „geh zu dem Kunden und schick die Magd herein; was tut sie so lange im Stall? Ihr Bankert hat mich schon beinahe taub ge¬ macht.“ Der junge Mann ließ das Buch liegen, erhob sich und sprach Mordechai polnisch an: „Der Herr wünscht etwas?“ „Kann man bei Euch etwas zu essen be¬ kommen?“ antwortete Mordechai jidisch und |