114 Romanbeilage des „Jüdischen Echo; Nr. 37 5 blickte dabei neugierig nach dem offenen Buche. Nun aber wurde der junge Mann verlegen, weil er einen Juden polnisch angesprochen hatte; als er Mordechais Neugierde merkte, klappte er das Buch zu, bereute es aber gleich, stammelte etwas, als wäre er dem Fremden eine Erklärung schuldig, und zeigte ihm das Buch: „Nehmt es mir nicht übel, ich meine... wenn Ihr einen Blick hineinwerfen wollt, selbstverständlich . . . ja, das ist ein Kom¬ mentar zum ,Führer der Irrenden 4 des Mai- monides...“ „Hörst du, Chane?“ die Alte klapperte mit ihren zahnlosen Lippen. „Ein Kunde kommt und will essen und er füttert ihn mit Büchern!“ „Ärgert Euch nicht, Mütterchen!“ Morde- chai wollte sie freundlich stimmen. „Wer ärgert sich denn?“ Sie knetete die Worte zwischen ihren Lippen. „Ich sage nur, daß von Psalmen noch keiner satt geworden ist!“ „Was wollt Ihr essen?“ „Kann man einen Pfannkuchen bekom¬ men?“ Der junge Mann sah sich um, als suchte er jemanden. Zaghaft zog er den Vorhang zur Seite, hinter dem die Betten standen und fragte leise: „Chane... Chane... schläfst du?“ „Was willst du von Chane, ich komme schon, ich komme,“ die Alte stand auf und schüttelte die Kartoffelschalen von der Schürze ab. „Hol’ indessen die Eier aus der Kammer.“ Mordechai öffnete ein zweites Buch* es waren die geometrischen Formeln des Gaon von Wilna. Nun war ihm klar, daß die geo¬ metrischen Figuren, die aus Pappdeckeln geschnitten waren, zur Geometrie des Gaon von Wilna gehörten. Er merkte gar nicht, daß die Alte näher gekommen war. Sie hüstelte und begann zu ihm zu sprechen wie zu einem alten Bekannten: „Gott ist mein Zeuge, ich habe mir nicht helfen können, ich habe diese Unreinheit in mein Zimmer nehmen müssen,“ sie wies auf das Muttergottesbild, „meine Tochter krän¬ kelt schon den ganzen Winter und das Würm¬ chen verlangt sein* Recht, es muß eine Amme haben... mein Schwiegersohn, er bleibe mir gesund, lernt und lernt... er sitzt bei seinen Büchern, da könnte alles auf dem Kopfe stehen, es geht ihn nichts an. Dabei taugt er wirklich nicht zum Handel, nun meine ich taugst du nicht zum Handel, so schau’ zu, ein Row zu werden, du bist doch schon Vater eines Kindes! Er antwortet nicht. Ganze Nächte durchwacht er. Wo er eine Schachtel erwischt, zerschneidet er sie und macht sich Spielzeug daraus, wie ein kleiner Junge; da liegt das Zeug herum,“ die Alte wies auf die geometrischen Figuren. „So hab’ ich Euch bitten wollen, nehmt es mir nicht übel, aber vielleicht lasset Ihr ein Wort fallen... ich meine...“ „Mutter, wozu redest du so viel? Ruf lieber die Magd herein, das Kind weint, es ist hungrig.“ „Wer redet viel, wer? Kein Wort darf man sagen!“ Die Alte streckte die Hände vor, als wollte sie sich vor einer Verleumdung schüt¬ zen, öffnete die Tür und rief: „Franka, Franka, was tust du so lange im Stall?“ Und jiddisch fuhr sie fort: „Nicht erleben sollst du herein¬ zukommen!“ Franka, die ein paar Schultern hatte wie ein Bauer, kam herein, den Arm voll Holz. Sie schleuderte es beim Herde hin, faßte das Kind, legte sich lang auf ihr Bett und reichte ihm die Brust. Das rote Bauernkind riß dem Klei¬ nen die Brust fort und schrie. Die Magd machte ihre zweite Brust frei und gab sie ihrem Kinde. Ein zufriedenes Lutschen, das an das Schmatzen von saugenden Ferkeln er¬ innerte, erfüllte die Schenke. Mordechai betrachtete die ganze Häuslich¬ keit, die drei Frauen, welche die Wirtschaft führten und mit dem jungen Mann umsprangen wie mit einem Lehrjungen, betrachtete die ge¬ rahmte Mutter Gottes, die umherliegenden Bücher; sein Blick konnte nicht von dem Strick loskommen, der um den Herd gespannt war und auf dem Windeln, Zwiebel- und Knob¬ lauchkränze hingen. Der junge Mann trat näher. „Kommt Ihr von weit her?“ „Aus Plozk.“ „Ihr habt wahrscheinlich Geschäfte auf dem Gutshof?“ „Nein.“ Der junge Mann wollte noch etwas fragen; da er aber sah, daß die Alte mit dem Pfann¬ kuchen kam, schwieg er. Mordechai setzte sich zum Essen und begann ein Gespräch. „Habt Ihr wenigstens hier Euren Lebens¬ unterhalt?“ „Man schlägt sich gerade durch.“ „Andere Schankwirte sich doch reich ge¬ worden.“ „Von einer Schenke ist noch niemand reich geworden, und wenn einer reich ist, so ist dies ein sicheres Zeichen, daß er sich mit Hehlerei abgibt, Schnaps aus Preußen schmuggelt... man arbeitet doch nur für den Gutsherrn! Außerdem ist es ein übles Gewerbe ...“ „Wie meint Ihr das?“ (Fortsetzung folgt) |