116 Romanbeilage des „Jüdischen Echos' Nr. 38 das Essen, versprach, in den nächsten Tagen mit einem Bekannten wegen der Schrift her¬ zukommen, verabschiedete sich und ging. Er schritt die Fahrstraße entlang, dem Guts¬ hofe zu, dessen gemauerte Scheunen und Spei¬ cher wie Kasernen am Wege lagen. Er erin¬ nerte sich an den Kommentar zum „Führer“; es schien ihm kein Zufall zu sein, daß vor einem Dreivierteljahrundert sein Verfasser, Salomon Maimon, genau so in einer Schenke gesessen hatte wie jetzt der junge Mann, im Verborgenen eine Schrift geschrieben und davon geträumt hatte, ins Ausland zu gehen. Dreiviertel eines Jahrhunderts — und nichts hatte sich geändert, alles war wie damals; vielleicht wird ein Dreivierteljahrhundert spä¬ ter ein hungriger Wanderer in die halbver¬ fallene Schenke einkehren und wieder einem solchen jungen Manne begegnen — wer weiß? Vielleicht. Zwei Heger führten einen Bauern in den Hof, dem die Hände auf dem Rücken gebunden waren. Aus den Scheuern und den Pferde¬ ställen kamen die Knechte in Lammpelzen und umringten neugierig den Häftling: „Was ist los, Stach?“ „Wer hat dich so geschlagen?“ „Schau, wie geschwollen er ist.“ „Man sieht das Auge kaum.“ Der Gefesselte wollte lächeln, aber das ge¬ schwollene Auge verzerrte das Lächeln zu einer weinerlichen Grimasse, leise fragte er: „Wo ist Antek?“ „Antek Piasecki?“ „Ja.“ „Da kommt er.“ Antek, ein kräftiger Bursche in einer roten Jacke, trat ohne Hut aus dem Stall. Er knallte mit einer kurzen Peitsche. Als er Stach ge¬ bunden sah, lief er hinzu: „Wo ist mein Alter?“ „Sie haben uns wund geschlagen!“ „Warum?“ „Stehlet nicht, so wird man euch nicht schlagen!“ warf ein Heger ein. „Du lügst!“ Der Gefesselte blickte verächt¬ lich auf den Heger und machte eine unbehol¬ fene Bewegung mit der gefesselten Hand, um sich an die Brust zu schlagen. „Wir haben nicht gestohlen! Wir haben Holz aus unse¬ rem Walde genommen, aus dem Bauern¬ wald ...“ „Hast du einen Erlaubnisschein?“ fragte der Heger überlegen. „Halt lieber das Maul, sei still!“ schrie An¬ tek den Heger an und wandte sich mit seiner Frage an Stach: „Und wo mein Alter ist, weißt du nicht?“ „Frage sie, die Hunde,“ der Bauer deutete auf die Heger, „sie haben ihn geschlagen...“ Die Heger wurden sehr verlegen; sie wi¬ chen den Blicken der Knechte aus und zogen sich zurück, um einer Gefahr, die sie nahe fühlten, zu entgehen; endlich begann einer von ihnen: „Ihr geht gleich auf uns los! Wir sind doch nicht schuld! Ihr an unserer Stelle wäret auch nicht besser! Wozu hat man einen Heger im Wald? Daß er das ganze Holz klauen läßt? Dazu hat noch der Herr selber dabeigestan¬ den ... er hat uns befohlen, zu schlagen...“ „Also hast du geschlagen?“ Antek trat ganz nahe an den Sprecher heran. Ohne zu antworten, wich der Heger zurück. Antek hielt ihm die Peitsche vor die Nase. „So ein Hundsfott! Sofort bindest du Stach los, hörst du!“ ..Wer bist du denn?“ Der Heger warf sein bleiches Gesicht trotzig zurück und hob ein wenig seinen Knotenstock, als wollte er sich verteidigen. „Wer ich bin? Da hast du, damit du weißt, wer ich bin!“ Antek versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Das genügte, daß die Knechte sich auf die Heger warfen. Sie schlugen auf sie los mit allem, was ihnen in die Hände kam — mit Schlegeln, Deichseln, Hufeisen, auch mit den Stiefelabsätzen. In das Geschrei mengte si-ch bald das Bellen der Hunde, die an ihren Ket¬ ten rißen, Mägde kreischten, und in das Ge¬ tümmel, das sich in den Gebäuden des Hofes erhob und durch die stillen, verschneiten Fel¬ der rollte, drang ein verzweifeltes Schreien: „Ola boga, helft! 01a boga ...“ Der Gutsherr kam mit seinem Gefolge aus dem Walde geritten. Mit schußbereitem Ge¬ wehr umringten sie den Haufen und machten der Schlägerei ein Ende. Eine unangenehme Stille herrschte. Blutig und atemlos wiesen die Heger auf Antek. „Den werde ich lehren, den Rebellen, den Lumpen!“ Der Gutsherr zügelte ärgerlich sein Pferd, das fortwährend zu steigen versüchte. „Fünfundzwanzig Hiebe auf der Stelle!“ Er spornte sein Pferd, ritt an Antek vorüber und schlug ihm mit der Reitpeitsche ins Ge¬ sicht. Blutig lief ein Streifen auf der Wange an. Antek hielt sich die Wange, lief im Kreise umher und schrie so furchtbar, daß allen die Haare zu Berge standen. Die Knechte wollten Weggehen, um nicht die Schmach eines Bruders mitansehen zu müssen, doch man verstellte ihnen den Weg, und der Gutsherr befahl, sie müßten Zusehen, wie es einem Rebellen erging. Fortsetzung folgt. |