Seite 732. Israelitische Wochenschrift. Nr. 62. des Vertrages. Wenn man in Rußland deutschen Handel¬ treibenden jüdischer Konfession das Betreten bestimmter Gebiete untersagt, wenn man sie von Messen ausschließt, ihren Auf¬ enthalt zeitlich beschränkt, wenn man sie mit besonderen Ab¬ gaben belastet u. s. w., so widerspricht das dem klaren Wort¬ laut des Handelsvertrages. Denn das sind nicht Bestimmungen, die für alle Ausländer gelten. Wohl aber verlangt das An¬ sehen und die Würde des Reiches, daß abgeschlossene Verträge gehalten werden. Alle Deutschen sind nach der Verfassung gleichberechtigt, der Schutz des Reiches muß dementsprechend auch für alle gleich sein. Die Blätter nun, die eine Zurück¬ setzung deutscher Reichsangehöriger wegen der Konfession gerecht¬ fertigt finden, versündigten sich dadurch am Reichsgedanken selbst, und sie müßten es ebenso geschehen lassen, wenn etwa ein katholischer Staat die Angehörigen der evangelischen Kirche schlecht behandeln wollte. Civis germanus sum! Soll das stolze Wort eine Bedeutung haben, die dem deutschen Namen entspricht, dann ist es ebensowohl Pflicht der Regierung, die Jnnehaltung des bestehenden Vertrages zu verlangen, als auch durch den neuen Vertrag jede Zurücksetzung deutscher Reichs¬ angehöriger auszuschließen. Die IuWomdie i« KWtttui. Ueber die entscheidende Sitzung in Kischinew, in der die Rechtsanwälte die Verteidigung niederlegten, erhalten wir fol¬ gende ausführliche Mitteilung: Am 6. Dezember bereits hatten die Verteidiger sowohl wie auch die Zivilkläger den Antrag gestellt, den früheren Gouverneur von Beßarabien, von Raaben, den ehemaligen Ehef der politischen Polizei, Baron von Löwendahl, und den ehemaligen Polizeimeister von Kischinew, als Zeugen zu laden. Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab. Das gab der Ver¬ teidigung Anlaß, einen weiteren Antrag zu stellen, der dahin ging, die Verhandlungen abzubrechen und die Sache zur nach¬ träglichen Ergänzung der Voruntersuchung an den Untersuchungs¬ richter zu verweisen. Zur Begründung des Antrags sprach zuerst Rechtsanwalt Kalmanowitsch, der' sich schon früher durch geschickte Fragestellung sehr hervorgetan hatte. Er sagte un¬ gefähr folgendes: Die Gerichtsverhandlungen finden hinter ver¬ schlossenen Türen statt. Durch die geschlossenen Türen blickt aber ganz Rußland, ja nicht nur Rußland, sondern die ganze Welt. Sie sind gute Staatsbürger, meine Herren Richter, und Ständevertreter, und Sie lieben Ihre Heimat, Ihre Juden aber lieben Sie auch. Warum hat man uns geschlagen, wollen wir wiffen, und wer hat uns geschlagen? Geben Sie uns eine Antwort, wir verlangen nichts weiter, wir fordern nicht einmal, daß die wirklichen Schuldigen auf die Anklage¬ bank gesetzt werden. Wir wissen, das ist unter den jetzigen Umständen unmöglich. Aber sagen Sie unzweideutig, daß sie schuldig sind. Glänzend war die Rede des Rechtsanwalts Karabtschewski: Sie kennen alle die grausige Geschichte vom bethlehemitischen Kindermord, sagte er. Stellen Sie sich vor, daß Sie römische Richter sind und daß Sie das Urteil aussprechen müssen darüber, wer die Schuld an diesem Massenmord trägt. Sind es die, die den Mord ausgeführt haben, die auf Befehl des Herodes die Kinder mordeten, oder ist er es, der schuldig ist? Ich glaube, daß diese Frage nur eine Antwort zuläßt. Ebenso liegt die Sache auch in unserm Fall. Die hier ans der An¬ klagebank sitzen, waren nur Werkzeuge anderer, die hier nicht anwesend sind. Die Zivilkläger können daher gegen die An¬ geklagten nicht vorgehen, als wenn wir die Gewißheit haben, daß wir die wirklichen Schuldigen vor uns haben. Rechtsanwalt Grusenberg betonte, daß die Sache jetzt bereits eine ganz andere Gestalt angenommen hat, als der Anklageakt behauptet. Außer den Angeklagten sind durch die Aussage der vernommenen Zeugen noch eine ganze Reihe von Personen schwer belastet. Rechtsanwalt Sarndny, ein Sohn des früheren Justizministers und einst selbst Staatsanwalt, be¬ fürwortete den Antrag auf's wärmste und wies dabei auf einen Fall aus seiner eigenen staatsanwaltschaftlichen Praxis. Als Vertreter der Anklage hatte er sich damals gegen die Ergänzung der Voruntersuchung ausgesprochen, mußte es aber später be¬ reuen. Rechtsanwalt Schdonow betonte, daß die Verhältnisie, unter denen eine Judenhetze nicht eher unterdrückt wird, bis eine kaiserliche Verordnung eintrifft, ganz abnorme seien und unbedingt in vollem Maß aufgeklärt sein müssen. Am 8. Dezember hatte sich der Gerichtshof zur Beratung über den Antrag zurückgezogen. Die Beratung dauerte zwei Stunden. Dann erbaten sich die Zivilkläger und die Ver¬ teidiger eine Pause von zwei Stunden zur Beratung über ihr ferneres Verhalten. Nach Ablauf dieser Frist waren sie jedoch noch nicht schlüssig, und deshalb mußte diese um weitere zwei Stunden verlängert werden. Als die Sitzung wieder aus¬ genommen war, erklärten die Verteidiger, daß die meisten von ihnen sich nicht imstande fühlten, die Verteidigung weiter zu führen und legten sie nieder. Die Vertreter der Zivilkläger gaben eine ähnliche Erklärung ab, und die Folge war, daß die meisten sich sofort entfernten. Das machte auf die Anwesenden einen tiefen Eindruck. Viele weinten. In großer Erregung verließen die meisten zugelassenen Zuhörer ebenfalls den Saal. Nach diesem Zwischenfall wurde die Verhandlung fort¬ gesetzt, doch förderten die Aussagen der vernommenen Zeugen nichts wesentlich Neues zu Tage. In der fünfzehnten Hauptverhandlung vom 17. Dezember wurden vernommen: Ustrugow, früherer Vizegouverneur, Chad- schenkow, früherer Polizeimeister von Kischinew, Oberst Rauch, Kommandeur des 34. Dragonerregiments, Nasarow, ein Nicht¬ jude, der schwer verletzt wurde, weil er eine Jüdin beschützte, und Paschtschenko, Chefgehilfe der freiwilligen Feuerwehr. Der ehemalige Vizegouverneur wußte wenig auszusagen. Er habe von den Judenkrawallen erst am zweiten Tag Kunde erhalten. Der Gouverneur habe ihn beauftragt, sich nach dem Schauplatz der Unruhen zu begeben und zu versuchen, die Menge zu beschwichtigen. Der Versuch sei mißlungen. Er sah und hörte jammernde Juden. Zweimal habe er das, Militär ersucht, eine Verhaftung vorzunehmen, jedoch erfolglos. Er erklärt die Judenhetze durch den Haß der christlichen Be^ völkerung, auch durch Ritualmordgerüchte und die Agitation des antisemitischen Blattes „Bessarabetz". Bemerkenswert daß Ustrugow selbst ein eifriger Mitarbeiter des „BessarLtED ist. Seine ganze Aussage war von höhnischem ZynI^M^^^ Der frühere Polizeimeister sagte aus, die Polizei sei zu schwach gewesen, die Krawalle zu unterdrücken, das Militär wollte bloß die Straßen bewachen und zur Abwehr eines direkten Angriffs der Menge bereitstehen. Der Polizeichef habe ihn benachrichtigt, daß am Stadtgarten eine regierungs¬ feindliche Kundgebung am ersten Ostertag erwartet werde; des¬ halb wurde Militär in der Umgegend versteckt. Die Kund¬ gebungen haben jedoch nicht stattgefunden. Daß die Judenhetze planmäßig arrangiert war, glaubt der Zeuge nicht. Derartige Gerüchte seien freilich früher verbreitet gewesen; auch der Rabbiner habe vor Ostern ihn darauf hingewiesen. |