Zur Programmatik der Zeitschrift "Jeschurun" [Jg. 1 (Neue Folge), H. 1, Januar 1914]


Jeschurun.

[...] Das Ziel steht klar vor unseren Augen, und der Weg erscheint so eben und leicht. Ist es doch ein einziger Gedanke, der leicht faßbar ist, daß wir eben Gott angehören sollen mit Leib und Seele. Nun, ein Blick auf unsere Zeit lehrt, daß ihr dieser einfache Gedanke fremd geworden, daß ihr das Ziel in nebelhafte Ferne gerückt. Wir reden nicht von dem, der gegen alles Religiöse gleichgültig, dem die Erfüllung der Thorapflicht eine Last. Auch die, welche von den besten Wünschen beseelt sind, dem Ziele zuzustreben, sind von dem rechten Wege abgeirrt.

Denn unser Wissen von Gott und seiner Lehre ist Stückwerk und Halbheit geworden. Der treugebliebene Rest innerhalb der westeuropäischen Judenheit hat es in seiner überwiegenden Masse noch nicht verstanden, eine innige organische Verbindung zwischen Thorawissen und moderner Kultur zu gestalten. So haben wir viele gebildete Juden aber wenig jüdische Bildung. Daher die Übung der Pflichten nicht mit jener tiefen Selbstbesinnung auf die Grundlagen des Ganzen, auf die inneren Zusammenhänge, wie sie aus der vollen Kenntnis des Thorageistes entspringt. Auf den Schulen der Neuzeit vorgebildet, von moderner Wissenschaft genährt, für Kunst und Literatur in allen ihren Richtungen begeistert, von der Mode beherrscht, ist ihnen ihr Judentum nicht das Beherrschende in ihrem Denken. Aber ebensosehr Einseitigkeit und Verkennung des Gesamtgeistes des Judentums bei unseren Brüdern im Osten. Die Typen sind selten, welche in ihrem Denken Thorawissen und die wertvollen Errungenschaften der Zeit in inniger Gemeinschaft verknüpfen, die der Lehre Weisheit und Einsicht vor den Augen der Völker zu künden vermögen, wie es von den großen Gestalten in den Blüteperioden unserer Vergangenheit geschehen.

Den Gründen nachzugehen, kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Tief liegen hier die Ursachen, und nur allzu schwer erscheint hier jede Änderung. Aber nur in Zeiten der Ruhe mag man hier mit dem jüdischen Leben, dort mit dem "Lernen" sich zufrieden geben. Heute, wo ringsum Stürme uns umtosen, die uns und vor allem unsere Jugend zu entwurzeln drohen, da müssen wir den Versuch machen, uns den rechten Weg zur vollen Erfassung des Judentums zu erkämpfen. Wegweiser seien uns die großen Lehrmeister im Judentum. Die Weisheit von unzähligen Generationen liegt aufgestapelt in den Bibliotheken, gelobt von vielen, von wenigen gelesen und gekannt. Sie denken in Bildern und Vorstellungen vergangener Zeiten, sprechen eine uns vielleicht fremd anmutende Sprache, aber reiche Schätze liegen auch für uns hier ungehoben. Es bedarf nur geringer Geschicklichkeit, das Gold in gangbares Geld umzumünzen. [...] Aber fast alle, auch die größten unserer Religionsphilosophen und Exegeten, welche die vertrauten Genossen unsrer Altvorderen waren, führen jetzt als Objekte der Wissenschaft ein einsames Dasein. Aber daß sie in unserem Herzen lebendig, Subjekte für die Erzeugung geistiger Werte in dem jüdischen Bewußtsein sind, wer dürfte das behaupten. Ein klein wenig dazu beitragen, jener Großen Gedankenwelt unserer Zeit zu vermitteln, ist an sich eine dankbare Aufgabe. Wichtiger noch, ihren Spuren zu folgen und für die Probleme unserer Zeit Lösungen zu bieten.

Aber auch unser Wille - und das ist das zweite - ist erlahmt. Die Heldenkraft, uns selbst zu bezwingen, ist uns verloren. Eine allgemeine Erscheinung der Zeit, bedenklicher für das Judentum, dem nur aus willensstarken Bekennern ein Schutz erwächst gegen die Gefahren, die es bedrohen. Auf die Zeit schieben wir die Schuld, auf die Macht der Verhältnisse, wenn die Forderungen der Religion nicht ihre Erfüllung finden, ohne zu bedenken, daß eine jede Zeit ihre Sorgen hat, die Verhältnisse nie unüberwindlich sind. Hingabe an Gott und Seinen Willen, im einzelnen Opferfreudigkeit für dieses oder jenes Gebot der Lehre sind G. s. D. oft genug zu entdecken. Aber wo es die Selbstentäußerung gilt, das ganze Leben nach Gottes Forderung aufzubauen, den Charakter zu modeln, den Kindern den Beruf zu wählen, da versagt der Wille.

Darum zu den Quellen zurück, aus denen unsere Eltern Kraft geschöpft! [...] Unsere Ahnen waren doch sicher jederzeit bereit für den Dienst ihres Schöpfers, aber sie nahmen immer wieder ihre Seele in Zucht und versuchten mit heißem Bemühen methodisch ihren Willen zu erziehen. Denn das ist auch eine schöne Lüge der Modernen, das Moralische verstünde sich von selbst. Nein, steil und steinig ist oft der Weg, und es bedarf der Führer, daß sie uns den rechten zeigen. Wie in der alten Zeit, so sollten auch heute die vielen mannigfachen Werke, die uns lehren, wie wir Gott und den Menschen dienen, unsere Lektüre sein. Sie sind nicht immer kurzweilig, aber das war die Pflichtenlehre niemals. Und auch hier dürfte es unschwer gelingen, das Alte in neue, gefällige Formen zu kleiden.

Und endlich unser Gefühl ist erkaltet. Das gilt vor allem von dem Teil der Judenheit, dem die westeuropäische Kultur, die wohltemperierte Äußerung der Gefühle anerzogen. Wenn nur nicht in Rückwirkung auch die innere Wärme sich verflüchtigt hätte! [...]

In unserer religiösen Literatur sprudelt die Quelle, von deren Wasser wir trinken müssen, um zu genesen. Die biblischen Gestalten zu beseelen, unserem Leben einzugliedern, die Helden und Weisen, die Dichter und Sänger unserer Vergangenheit in ihrem Wirken zu belauschen, uns einzufühlen in jene Welt heiliger Empfindungen, welche Jahrtausende hindurch die besten Geister unseres Volkes erhoben und beglückt, die Gott geliebt mit ihrem ganzen Herzen, das ist das rechte Mittel, um die noch glimmende Kohle zu entfachen, daß die Flammen der Begeisterung für Gott und Seine Lehre in alter Stärke wieder emporschlägt.

[...] unser Judentum fordert die Harmonie und die Aufgabe eines jeden von uns ist es, in sich diese Harmonie zu gestalten. Es gelingt nicht immer den Einzelnen. Dann ist es die Aufgabe der großen Gemeinschaft, in der Summe des Lebens ihrer Einzelindividuen diese Harmonie zu schaffen. In allen Perioden der Geschichte des Judentums tritt diese Harmonie zutage. In Einzelnen, deren Seelenkräfte zu einer Einheit zusammenklangen. In der Gesamtheit: Neben die jüdischen Kämpfertreten die jüdischen Denker, die Männer feinsten religiösen Fühlens. [...]

Den Namen Jeschurun haben eine Reihe von Zeitschriften getragen. Er erschien auch uns angemessen, weil in ihm so mancherlei anklingt an den geraden Weg, an den Weg des Frommen, an den Weg, den ein ganzes Volk in geschlossener Einheit durchwandelt. Und die Erinnerung soll er wecken an eine Zeit, in der unter diesem Banner für die Wiederbelebung des religiösen Geistes Unvergängliches geschaffen wurde. Nicht in das Gewand des Riesen wollen wir uns kleiden. Aber wenn in den Gedanken und in der Sprache unserer Zeit auch uns ein weniges gelänge, so wäre es uns schönster Lohn [...].