Zur Programmatik der Zeitschrift "Im deutschen Reich" [Jg. 1, Nr 1, Juli 1895]


EIN WORT ZUR EINFÜHRUNG

Es geht eine alte Legende, dass im dreißigjährigen Kriege ein Landsknecht schier unverwundbar gewesen sei. Mit ruhigem Muthe stritt er in Kampf und Noth. Dem Widersacher, der sich ihm feindlich entgegenstellte, trat er entschlossen und mit der besten Zuversicht des siegreichen Ausganges entgegen. Ansturm und Bedrängnis wehrte er mit der Sicherheit ab, welche das Gefühl der Ebenbürtigkeit mit dem Gegner, das Bewußtsein des eigenen Werthes verleiht. Und so blieb er stets unverwundet und heil. Das dankte er einem Amulet, das ihn niemals verließ und auf dessen Zauber, der in seinem Innern geborgen war, er mit aller gläubigen Zuversicht baute. Während all' der Sturm- und Drangjahre war es ihm nie zu Sinnen gekommen, erkunden zu wollen, was das Wesen der wirkenden Macht seines köstlichen Geheimnisses wohl wäre; aber als sein unruhsames Leben zur Rüste ging, mochte der alte Krieger die Wißbegier nicht länger zähmen. Er mußte erfahren, welche unerhörte Kraft es sei, der er so großen Erfolg in seinem Leben dankte; und er zerbrach schließlich die Hülle, um nachzuschauen. Da war nichts Fremdes, nichts Geheimnißvolles darinnen; nur ein Wort stand geschrieben: "Hundsfott, wehr' Dich!"

Auch die deutschen Juden befinden sich in einem Kriege, der abermals ein dreißigjähriger zu werden droht. Auch sie fangen endlich an, nach einem Amulet, einem Talisman auszuschauen, der ihnen hilft, die Noth der Zeit zu überstehen. Aber es waren bisher immer fremde Fahnen, denen sie folgten, nie das eigene Panier. Und doch ist noch niemals eine Sache siegreich anders verfochten worden, als von denen selber, die sie anging. Und doch ist niemals einer Vertheidigung Achtung und Antheilnahme gewonnen worden, wenn sie nicht mit dem eigenen Einsetzen der Persönlichkeit geführt worden ist. Und noch niemals durften Geschmähte und Gekränkte weiter erhobenen Hauptes durch die Reihen ihrer Mitbürger schreiten, wenn sie eine Beleidigung, einen Angriff nicht selber zurückweisen Neigung oder auch Muth hatten. Nemo me impune lacessit – Keiner reizt mich ungestraft -, muß für jeden und jeden Freien, nicht etwa nur für die Edelsten, ein erster Grundsatz der Lebensführung sein. Und so ist es nützlich, so ist es nothwendig, daß endlich nun an die deutschen Juden der laute Ruf ergeht: "Wehrt euch!" Die Vereinigung, deren Ideen dieses Blatt hier dienen soll, die Männer, welche sie vertreten dürfen, haben vom echten Anbeginn ihrer gern geübten Thätigkeit auf die Pflicht der Selbstvertheidigung als der einzigen zuverlässigen Waffe, die heute noch frommen kann, die deutschen Juden immer und immer hingewiesen. Und dieser Appell ist nicht ungehört verhallt. Von Tag zu Tage mehrt sich die Vereinigung, wächst die Zahl Derer, welche aus der harten Nothwendigkeit die Erkenntnis gewinnen, daß die beste Deckung der Hieb ist. Aber noch immer sind es nicht Alle, bis auf den letzten Mann. Noch immer stehen zögernd eine Reihe von Deutschen jüdischen Glaubens zur Seite, welche meinen, daß sie Anderen ihre Vertheidigung überlassen dürfen. Noch immer sind deutsche Juden der stillschweigenden Ansicht, sie persönlich seien ja nicht gemeint und getroffen, sie denen es gut geht. Noch immer lastet auf Manchem die thörichte Furcht, nur keinen Staub aufzuwirbeln, mit keinem der Mächtigen, der Wortführer im Volke, es zu verderben. Noch immer können Juden von Beziehungen und Einfluß hoffen und harren, daß durch stille Einordnung in Gruppen und Fraktionen, die nach dem zwingenden Worte eines starren Programms, nicht nach der inneren Stimme der Gerechtigkeit und der Neigung, vielleicht ohne Haß, aber auch ohne Gunst, der Gegner allzu eifernden Ansturm, wo es ihnen von Vortheil erscheint, zurückweisen – noch immer können Juden glauben, daß durch die geduldige Entgegennahme aller Kränkungen und Schädigungen der Sache, die wir verfechten, nicht erdulden sollten, am besten gedient sei. Und doch erstreben wir es mit heißem Bemüh'n, daß unsere Vereinigung zur ausnahmslosen Gesamtheit aller deutschen Juden werde. Darum ergeht nun auf's Neue der Ruf zum Sammeln; und als eine neue Fanfare soll diese Zeitschrift dienen, die deutschen Juden zusammenzurufen zu gemeinsamem Schutz und Trutz, zur Selbstvertheidigung, zur Selbsthülfe.

Die Ziele, zu welchen der Weg sich wendet, im Einzelnen klar zu legen, ist nicht vonnöthen. Sie sind bekannt. Was aber für das Beginnen vornehmlich fehlte, war ein einigendes Band, die Schaffung eines äußerlichen Zusammenhanges unter uns; denn wir konnten bisher nicht mit einander reden. Fortan ist ein Gedankenaustausch ermöglicht; fortan kann Jeder hören, was geschieht, was erstrebt wird, kann Jeder mit den Freunden, mit allen reden. Und wenn diese Erörterungen weithin vernommen werden, desto besser. Wir haben nichts zu verheimlichen. Das ist ja gerade das Wesen dieser Vereinigung, daß ein Jeder von uns, ob er nun auf der Höhe des Lebens wandelt oder mühselig und beladen ist, ob er gläubig zum Himmel aufblickt oder sein Leben nach den Gesetzen einer eigenen Sittlichkeit regelt, ob er ein grübelnder Schriftgelehrter ist oder ein einfaches Kind der Welt, ob er willig und gern die Herrschaft der Einen im Staate anerkennt oder selber mitwirken möchte zum Wohle des Ganzen – daß ein Jeder von uns mitarbeite an dem Werke der Selbstvertheidigung. Er wird fortan die Möglichkeit haben, die Sache der Gesamtheit, die seine eigene ist, zu führen.

Die schwere Sünde der Unterlassung, die wir alle bisher begangen haben, fängt schon an sich zu rächen. Immer schärfer werden, immer unfreundlicher die Anschauungen über uns. Immer allgemeiner wird der Brauch nicht nur, sondern, ach, auch die überzeugte Meinung Vieler: wenn ein Jude Schlimmes begangen, allen darum die Schuld anzurechnen; wenn die Juden gekränkt und beschimpft werden, niemals uns allen das so natürliche Recht zuzugestehen, Genugthuung und Sühne hierfür zu heischen. Bekennen sich zu solch trügerischer, schädlicher Meinung doch ganz offen schon selbst Recht und Richter. Und es ist unsere eigene Schuld. Und es giebt hier nur eine einzige, unabweisliche Folgerung: "Laßt es Euch nicht länger gefallen!"

Nur in dem starken Wollen und dem tragenden Bewußtsein einer unbeirrten Selbstvertheidigung, nur in dem festen Entschluß des Einsetzens der eigenen Persönlichkeit beruht die sichere Gewähr des Erfolges. Wir Alle tragen das Amulet des alten Landsknechts, das ihm Sieg verlieh, in unserem Innern. Aber wir wagen nicht es zu öffnen. Die Jahrhunderte der Heimlichkeit, der verborgenen Künste sind vorübergerauscht und versunken; heute hat Bestand nur und Bedeutung, was vor Aller Augen auf dem offenen Markte des Lebens vor sich geht. Nun denn, auch die deutschen Juden sollten das gewaltige Wort, das sie so oft in ihrem Innern gehört, aber auch immer wieder in ihrem Innern verschlossen haben, nicht länger mehr schweigend mit sich herumtragen, sondern es laut und weit hinausrufen in wiedergefundener Würde, ein Jeder sich selber, ein Jeder dem Anderen, das Wort des unerbittlichen Sieges: "Hundsfott, wehr' Dich!"

M.M.