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fläche unserer in Zersetzung begriffenen Gesellschaft schwimmt, so viele Nachkommen Abraham's vorfinden?
Wir kennen die' Gründe: es sind weder physiologische noch völkerkundliche, es sind ganz geschichtliche. Der Jude hat lange nirgends Wurzel zu fassen vermocht. Womit waren die Sprößlinge Jacob's während Jahrhunderte auf der Erde Europas zu vergleichen? Mit taubem Gras, das in jeder Jahreszeit die Hand des feindseligen Gäters ausreißt; oder dort, wo wir ihre Anwesenheit duldeten, auch mit Topfpflanzen, die unablässig vom Platze gerückt wurden, mit dürftigen Stauden im Kübel, die nicht die Freiheit hatten, im Erdboden anzuwurzeln. Fast überall stand fest, daß der Jude bloß ein durch Duldung zugelassener Gast auf dem Durchzug war; in manchem Lande mußte er sich alljährlich das Aufenthaltsrecht um ein schönes Stück Geld erkaufen. In Rom, das eine Art Aufbewahrungsstätte für die alten Gebräuche bildete, waren die Juden jedes Jahr nach der Fastenzeit verhalten, sich auf dem Capitol die Ermächtigung zu einem weiteren Jahresaufenthalt in ihrem jahrhundertealten Ghetto feierlich zu erbitten. Und dieses Gesuch mußten sie demüthig mehrmals wiederholen; die Supplik der Ebrei wurde, nachdem sie an den capitolinischen Treppenabsätzen unten zurückgewiesen worden, erst auf der Höhe des geheiligten clivus entgegengenommen?os)
Sorglich abseits von ihren christlichen Nachbarn verwiesen, mußten die Juden unter einander leben und zwei oder drei Generationen Freiheit haben diese Gewohnheit bei ihnen nicht gänzlich zu beseitigen vermocht. In manchen Gegenden sind sie übrigens durch das Gesetz oder die Sitten, die ausschließlicher als das Gesetz, heute noch zur Absonderung gezwungen. Allemal, wenn der Jude den Versuch machte, aus der Judenschaft herauszutreten und seinen
203 ) Diese sinnbildliche Ceremonie fand noch nach 1830 statt; sie ist unseres Wissens erst unter Pius IX. abgeschafft worden. (Siehe beispielsweise Mendels- sohn-Bartholdy „Reisebriefe aus den Jahren 1830—1832"; Leipzig, Mendelssohn, 1865, S. 122.)