Georg Brandes

Die Iiteratur jeder Zeit ist zugleich auch Zeichen der Zeit, aus der heraus sie geboren ist. Literatur ist oft Echo der Tagesstimmen und Spiegelfläche des Zeitstromes. Literatur steht nicht abseits vom Leben; sie empfängt vielmehr alles von ihm und übt rückwirkend auf das Leben einen merklichen Einfluß aus. Es gibt immer eine Linie, auf der Literatur und Leben einander begegnen.

Zuweilen kommt es vor, daß das Leben nur spär­liche Frucht trägt und die Literatur dagegen eine gute Ernte hat, daß im Leben ein Niedergang und in der Lite­ratur ein Aufstieg deutlich sichtbar wird, und die Fälle sind nicht selten, daß in einer mißratenen Zeit das Gestirn eines Genies strahlend aufgeht, wogegen in manchen bessern Zeitläuften die Talente erst addiert und ihre Werke zusammengezählt werden müssen, um ein ansehnliches geistiges Kapital zu gewinnen.

Aber nie und niemals laufen Literatur und Leben so parallele Wege, daß sie einander nicht berührten. Mit­hin sind allezeit die geistig Schaffenden mehr oder minder am Werke des Tages;

Um so verwunderlicher ist es, daß die Literatur­forschung gar oft diese Wechselwirkungen außer acht läßt

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