Chajim Nadiman Bialik
In der Aufklärungszeit wurde in der hebräischen Poetenschule mit der poetischen Lizenz insofern Mißbrauch getrieben, als ein jeder, der Hebräisch schreiben konnte, für sich die Lizenz beanspruchte, zu dichten. Dazumal gab es viele Dichter in Israel, die keine Dichter waren. Ihre Dichtungen boten ein Gemisch von philosophischen Betrachtungen und moralischen Sentenzen, sprühendem Wortwitz und trockenem Humor, schwülstigen Phrasen und gereimter Prosa. Reine Gefühlsergüsse waren ihnen fremd. Jedes Ding lief bei ihnen auf die Moral hinaus. Da sie eine große Vorliebe fürs Lehrhafte besaßen, bevorzugten sie das didaktische Gedicht. Die Bevorzugung der Lehrgedichtsgattung hat sich bei den hebräischen Dichtem bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten.
Freilich hat die hebräische Literatur jener Zeit einige Dichter zu verzeichnen, in deren Dichtungen der Puls einer warmen Empfindung zu vernehmen ist. Diese Dichter meisterten die hebräische Sprache. Mit großer Kunstfertigkeit wandten sie in ihren Gedichten das Bibelwort so an, daß es in seiner alten Form einen neuen Gedanken erhielt. Sie waren Meister des Wortes; sie besaßen ein selten entwickeltes Sprachgefühl, das sie be-
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