Micha Josef Berdyezewski
Es war in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Der jüdische Volksoiganismus ward wieder einmal, wie so oftmals in der Geschichte, von äußern und innem Erschütterungen heimgesucht. Im Osten wie im Westen umgab ihn eine schwüle, erdrückende Atmosphäre: Judenverfolgungen in Rußland, Dreyfus-Affäre in Frankreich. Zu der Verdrossenheit, die die äußern Verhältnisse verursachten, gesellte sich bald die Unzufriedenheit mit sich selbst.
Die materielle Not machte auch die geistige fühlbar. Das Bewußtsein, daß eine Änderung der äußern Verhältnisse notwendig sei, erzeugte bald das Bedürfnis nach einer innem Umgestaltung. Man erkannte, daß das Judenvolk außer der äußern Knechtschaft auch einen innem Knechtsinn besitzt; von beiden wollte man sich befreien. Das Wort „Autoemanzipation“ war gefallen, ein hebräischer Denker, Achad Haam, gab die Parole aus: „Nationaljudentum“, Max Nordau prägte das kraftvolle Wort „Muskeljudentum“, Theodor Herzl schrieb ein altes Wort auf neue Tafeln: „Zionismus“, und die Jüngsten der Jungen sagten: „Renaissance“.