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Verlauf der Oktober-Fogrome im Jahre 1905.
Aehnlich wie in einzelnen Organismen der lebenden Wesen, schwere Krankheiten, die gefährliche Verheerungen anrichten, nicht plötzlich, nicht ohne vorhergehende Anzeichen kommen, so auch im sozialen Organismus. Die Juden-Pogrome, mit Beraubung und Vernichtung des Hab und Gut und Misshandlung, ja Tötung von Männern, Frauen und Kindern jüdischer Konfession, haben immer auch ihre Vorzeichen im gesellschaftlichen Leben, die den erfahrenen Beobachter, den akuten Ausbruch dieses sozialen Gebrechens erwarten lässt.
In unzähligen Variationen des gesellschaftlichemVerkehrs macht sich die geschürte und aufgespeicherte Feindseligkeit vor den Pogromen bemerkbar. Von der feineren kaum fassbaren Gereiztheit, die sich nur im Ton und Form der Rede und im Blick und Bewegung hervorwagt, bis zu den offenen voreiligen Ausbrüchen roher Handgreiflichkeiten können die verschiedensten Merkmale eines gestörten misstrauischen Verhältnisses zwischen den betreffenden Bevölkerungsteilen angezeigt werden. Auch vor den Oktober- Pogromen des Jahres 1905 zeigten sich solche Symptome, die den aufgehäuften Zündstoff ahnen Hessen. 1 ) Bald hier, bald dort kam es, öfter als in normalen Zeiten, wegen den geringfügigsten Anlässen zu Geplänkel zwischen Christen und Juden. Es traten lichtscheue, verdächtige Individuen auf, die sinnlose, aber seit undenklichen Zeiten immer wieder neu hervorgebrachte Beschuldigungen gegen die jüdische Bevölkerung erhoben. Im wesentlichen lauteten sie folgendermassen: die Juden sind für alle Schicksalsschläge, die das russische Reich trafen, verantwortlich zu machen. Sie sind Blutsauger, Betrüger, Parasiten und Ausbeuter der christlichen Bevölkerung. Sie schlachten und morden gegenwärtig noch christliche Kinder, deren Blut sie zu rituellen Zwecken verwenden. Sie sind
*) Vergl. hiezu die Monographien über die Voroktober-Pogrome in Homel und Schitomir im Bd. II des Sammelwerkes: „Die luden-Pogrome in Russl.“