VIERTES KAPITEL
Die Erzählungen
Bereits in der älteren Königszeit stand, insbesondere im Nordreich, die hebräische Erzählungsliteratur in hoher Blüte. Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass einige Erzählungen, darunter die herrliche Dichtung: Josef und seine Brüder, in der Thora als geschichtlicher Stoff verwendet wurden. Einige aber aus früherer und späterer Zeit haben sich als selbständige literarische Schöpfungen erhalten.
1. Ruth. Eine Dorfgeschichte, wie sie schöner in keiner Sprache je geschrieben wurde, einfach in der Fabel und schlicht in der Darstellung, ohne Spannung und Verwicklung, auch ohne jede überraschende Wendung — und doch eine wahre Dichtung von einem unnachahmlichen künstlerischen Reiz. In vier Kapiteln von insgesamt 85 Versen wird die Geschichte einer ju- däischen Familie im Landstädtchen Bethlehem erzählt, die sehr tragisch anhebt (Kap. 1). Die Tragik ist ohne Pathos dargestellt, aber sie wirkt in ihrer Natürlichkeit um so ergreifender. Eine Familie geht ohne eigene Verschuldung durch harte Schicksalsschläge zugrunde. Und wie die ihren Mann und ihre Söhne überlebende Noomi ihr schweres Schicksal erträgt, wird geradezu herzerschütternd geschildert. Indessen sollte die Familie in dem moabitischen Weibe Ruth wieder auf blühen und zu ungeahntem Ansehen gelangen (Kap. 2—4). Die Hauptfigur der Erzählung, die junge Moabiterin, tritt keines-
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