FÜNFTES KAPITEL

Das prophetische Schrifttum

1. Die geschichtliche Bedeutung des israelitischen Prophetismus für das jüdische Volk in seiner kulturellen Entwicklung und für die Gesittung der Menschheit im allgemeinen kann hier nicht gewürdigt werden. Unsere Darstellung beschäftigt sich mit den prophetischen Büchern nicht in ihrem ethischen Gehalt, der eine völlige Umwälzung im Reich der Sittenlehre bedeutet, sondern mit ihren literarischen Formen. Aber auch hier bestätigt sich der Erfahrungssatz, daß jedesmal, wenn neue Gedanken auftreten, neue Probleme und neue sitt­liche Forderungen, auch eine neue Sprache geschaffen wird neue Formen für den neuen Inhalt. Die Pro­pheten Israels haben in die hebräische Sprache den Stil der Rhetorik eingeführt, der hier in seinen allgemeinen Regeln behandelt werden soll.

Die ältesten schriftstellernden Propheten denn nur von diesen kann hier gesprochen werden finden wir zuerst im Nordreich, in Efraim, wo mit den verfeinerten Lebenssitten allmählich auch ein moralischer Niedergang in Erscheinung trat Seit der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts begegnen wir jenen wunderbaren Männern, die sich mutig den herrschenden Strömungen entgegensetzten und König, Fürsten, Priestern und dem ganzen Volk einen treuen Spiegel ihrer Taten und Untaten vorhielten. Ihre Mahnungen, ihren strengen Tadel, kleideten sie in eine gehobene bilderreiche Sprache,