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Boi den Juden aber finden wir die Gründung solcher Vereine — auch unter den Frauen —• als eine seit vielen Jahrhunderten gepflegte altehrwürdige Sitte: selbst in kleinen und kleinsten Gemeinden hat es nicht an Frauenvereinen gefehlt für Krankenbesuch, Pflege der Wöchnerinnen, Leichenbestattung, Unterstützung des Studiums, Waisenerziehung, —■ und was sonst noch Mitleid und Theiluabme frommer Gemüther zu werkthätiger Energie auf- ruft. Hier wurde in jeder Gemeinde die Gemeinschaft menschlichen Schicksals in Leid und Freud stets tief empfunden und treu bewährt.
Während also die weite Verbreitung der Liebesthätigkeit für die nicbtjüdische gebildete Gesellschaft Europas eine ihrer schönsten neuen Errungenschaften bildet, — ist sie für die Juden eine alte Erbschaft. Wie ein poetisches Gleichniss für diese unbestreitbare historische Thatsache erscheint folgender Vers des modernen christlichen Dichters, der fast wörtlich wiederholt was Moses befiehlt:
„Lass nicht auf Deinen Tisch vergebens,
Den Hungrigen durchs Fenster sehen;
Verscheuche nicht die wilde Taube.
Lass hinter Dir noch Aeliren stehen,
Und nimm dem Weinstock nicht die letzte Traube.“ d (Hermann Lingg),
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