Vorwort.
In altern historischen Darstellungen verglich man oft das Leben einer Genossenschaft — einer kleinern ober größern gesellschaftlichen Gemeinschaft — mit einem Organismus; man fand Analogien in der Entwicklungsgeschichte beider, man sprach von Blüte und Verfall der Gemeinschaft, von einem Stoffwechsel, durch den sie genährt und durch den sie zum Wachsthum gebracht wird. Wäre dies nur ein poetischer Vergleich geblieben, so hätte man sagen dürfen: jeder Vergleich hinkt und alle Unebenheiten des Vergleichs btirfert sich unter die schützende Decke der poetischen Lieenz bergen. Dieser Vergleich wurde jedoch buchstäblich und realiter genommen, die ältere Geschichtswissenschaft machte ihn zu ihrer Grundlage und zwang die Thatsachen, sich diesem Vergleiche anzupassen.
Bei solcher Darstellungsweise muß das Hauptaugenmerk auf die Zurechtstutzung der synchronistischen Begebenheiten gerichtet werden, um sie recht passend in die Entwicklungsgeschichte des Judenthums hineinzuweben. Man muß oft, um die Begebenheiten seinem Zwecke dienstbar zu machen. Vieles in den Vordergrund stellen, was sehr nebensächlich ist, viele Verhältnisse zuspitzen, mit einem Worte, dieselben tendenziös färben.
Da aber die Geschichte die Lehrmeisterin der Menschen sein soll, genügt es keineswegs, sie blos von einem Gesichtspunkte aus darzustellen. Sie hat über jede Frage Auskunft zu geben und verlangt für jede Frage ihre eigene Behandlung. Am wenigsten jedoch entspricht es, sie als Organismus aufzufassen, denn in Wahrheit verläuft die Entwicklungsgeschichte einer Genossenschaft nicht wie die eines Organismus. Dort ist nicht der Stoffwechsel Prinzip, sondern die durch Motive entstandene Bewegung. Die Motive, das sind die Reize, die eine Bewegung innerhalb der Gemeinschaft Hervorrufen, und der Zweck, das ist das Ziel, dem die Bewegung zustrebt. Die Motive liegen allerdings sehr oft außerhalb der Genossenschaft, sie liegen in den synchronistischen Begebenheiten, und darum ist es überaus wichtig, dieselben klar darzulegen und keine zu übergehen.*)
*) Einen richtigen Weg zur Darstellung des Entwicklungsverlaufes einer sozialen Gemeinschaft zeichnete Ranke vor in seinem Werke: „Geschichte der Päpste in den letzten vier Jahrhunderten."
1